26 Oktober 2007

Positives

Bis jetzt hab ich ja in diesem Blog immer nur gejammert und gemeckert, seit ich hier in der Klinik bin. Das ist sicherlich größtenteils auf einen gruppendynamischen Prozess zurückzuführen, denn auf meiner Station ist Meckern ein Volkssport. Da mir das ziemlich auf die Nerven geht (*mecker*), will ich dem Einhalt gebieten, indem ich euch mal alles erzähle, was mir hier gut gefällt.
- Die Umgebung. Hier ist ziemlich viel Wald mit vielen Spazierwegen, ein Bach, ein paar Tümpel, sumpfige Wiesen und überhaupt ganz viel Natur, und bis jetzt ist das Wetter meistens sonnig, und wenn nicht dann doch wenigstens trocken. Hinter dem Haus gibt es einen versteckten Pfad, der zu einer idyllischen Holzbrücke führt, wo man wunderbar beinebaumelnd dem Wasser beim Fließen und den Mücken beim Tanzen (und manchmal den Golfern beim Abschlagen) zuschauen kann. Hab sogar schon eine Bisamratte getroffen. Allein in der Sonne durch die Natur spazieren ersetzt mindestens 1/4 meiner Medikamentendosis.
- Die Therapeuten. 90% sind sehr nett, trotz ausfallbedingter großer Arbeitsbelastung. Wenn man fragt, bekommt man in der Regel was man will, sei es Soziales Kompetenztraining oder Rückengymnastik.
- SKT. Zu Deutsch: Rollenspiel. Ich hatte bis jetzt zwei Sitzungen, und durfte schon viermal den Bösewicht (Chef/Mutter/ehrgeizige Ehefrau/Personalleiter) spielen. Ist nicht das gleiche wie zu Hause, aber es macht einen Heidenspaß, meine Rollenspiel-unerfahrenen Mitpatienten mit immer neuen Einfällen und Persönlichkeiten zu überraschen.
- Bewegungstherapie. Jawohl. Abgesehen von meinem Totalausfall nach dem Volleyballspielen ist der Sport wirklich mit das Aufschlussreichste, was ich hier mache. Man könnte vermuten, dass es an der gesteigerten Durchblutung des Gehirns liegt, aber da steckt noch mehr dahinter: ich komme jedesmal mit dem Gefühl raus, wieder etwas neues über mich erfahren zu haben. Sport macht nachdenklich.
- Expo-Situationen. Das ist überhaupt mein neues Lieblingswort: Exposition. Alles, was den Patienten aufgrund ihrer Krankheit schwer fällt, was die Therapeuten oder irgendwelche Situationen sie aber trotzdem zu tun veranlassen, wird hier so bezeichnet. (Z.B. wenn ein Mensch mit Waschzwang etwas schmutziges anfassen muss und sich hinterher nicht die Hände waschen darf.) Meine Lieblings-Expo-Situation der letzten Woche: in ein Autogeschäft gehen und dem Verkäufer mitzuteilen, dass ein Schmetterling in seinem Schaufenster sitzt und nicht raus kann, und dass ich möchte, dass er ihn befreit, und trotzdem kein Auto kaufen werde. Ich musste zweimal hingehen und sehr hartnäckig sein, aber der Schmetterling ist jetzt frei (oder wenigstens in Freiheit vor Kälte statt in Gefangenschaft vor Hunger gestorben).
- Meine Teekanne. Ohne die würde ich den Aufenthalt hier nicht überleben. Sehr hilfreich ist auch die Tatsache, dass es von 6h morgens bis halb 11h abends immer kochendes Wasser gibt, so viel man will.
- Blue Tack. Nur dadurch war ich in der Lage, meine Zimmerwände mit Fotos von euch, von unserer Hochzeit, unseren Katzen und allem möglichen anderen angenehmen zu tapezieren, ohne den Putz zu beschädigen.
- Tanzen. Es gibt nebenann eine Dorfdisko der schlimmsten Sorte. Dienstags legt dort ein DJ auf, der nicht ausschließlich Udo Jürgens spielt, und es so gelegentlich fertigbringt, dass ich meine Umgebung vergesse und einfach nur tanze.
- Am Wochenende nach Hamburg fahren und dort ganz normal verrückte Leute treffen.
- Halswirbelsäulengymnastik. Der Termin könnte blöder nicht sein: Samstags von 11 bis 12. Und ich freu mich drauf wie ein Schnitzel.
- Mit 'Krieg und Frieden' durch sein und noch über drei Wochen Zeit für die nächsten fünf Bücher haben.
- Internet. Trotz Abgeschiedenheit und ständiger Nabelschau immer noch mit euch allen kommunizieren zu können ist ungefähr das beste, was es gibt. :)
- Wochenende!!!!

5 Kommentare:

naiko hat gesagt…

hallo tanja,

das ist inspirierend!!!! wirklich!!! ich denke, es würde uns allen gut tun, mal so eine liste anzufertigen. meckern ist nämlich vermutlich nicht nur in deiner abteilung in, sondern ein gesellschaftliches phänomen erster güte.

ich habe letzte woche schopenhauer im ethikkurs besprochen, der ist so negativ, dass sogar pessimisten die krise kriegen. hauptgedanke: das streben nach glück ist eine illusion. das leben beweist uns doch täglich, dass es nicht dazu da ist, glücklich zu werden. und das schöne daran ist: meine schüler hassen schopenhauer. ich finde das beruhigend.
watzlawik und seine anleitung zum unglücklichsein lieben sie. gut so.

mehr positives hoffentlich bald und dir alles gute weiterhin!
alles liebe
deine n.

Britta hat gesagt…

Supercool und auch den Vorschlag von Naiko finde ich gut.

Bei Gelegenheit versuch ich auch mal ne Liste meiner aktuellen Glückseligkeit zu machen. ;)

Anonym hat gesagt…

Hm, ich glaube hier in England sehen das die Leute etwas anders. Ich hoere weniger Gemecker - wenn ich drueber nachdenke, recht wenig. Liegt sicher auch daran, dass meine Kollegen alle tendentiell positiv denken, und sich eher mit ungluecklichen situationen abfinden statt laut zu meckern.

"Mustn't grumble" gilt hier und das wird ziemlich eingehalten. Und wenn man mal meckert oder so, endet das GEspraeh meist mit "Wird schon alles gut werden".

Koennten sich die Deutschen ein bisschen was abkucken.

Anonym hat gesagt…

Ich will Anke Recht geben. Die Mentalität in Großbritannien ist gänzlich anders, daher während meines jährlichen Urlaubs in Schottland (wir wollen hier England und Schottland allerdings nicht in einen Topf werfen) sehr entspannend für mich. Die verbal betonte Gelassenheit ist zwar meist ein Ausdruck innerer Haltung, aber sie wirkt auch dann nach innen, wenn man gerade nicht in sich ruht. Neben "Mustn't grumble." fallen mir "Don't worry." oder "Never mind." ein, im Bayerischen kann da höchstens ein beschwingtes "Passt scho!" mithalten. "Alles wird gut!" kann man im Deutschen kaum ohne Ironie sagen (spätestens seit Nina Ruge es zu ihrem Slogan gemacht hat), während "Everything will be (just) fine" wirklich beruhigen kann.

Meine Granny hatte nur positivierende Redewendungen in ihrem Wortschatz - sie war sogar der Ansicht: wenn man nichts Gutes zu sagen hat, sollte man lieber gar nichts sagen. Ihre Überzeugung, die aus einer ihrer Lieblingsaussprüche "All things work together for good" herausklingt, fusste in einem sehr einfach, aber soliden Glaubensfundament. Darauf kann ja nun nicht jeder zurückgreifen.
Aber man muss ja nicht an Gott glauben, es genügt, wenn man an die Menschen glaubt.

Jedenfalls haben Menschen in Großbritannien eine andere Art mit Problemen umzugehen. Das beginnt damit, dass man sie nicht "Probleme" nennt. Was wir Probleme nennen, wäre dort "a nuisance", "a problem" ist dort eine mittelschwere Katastrophe á la Appollo 13. Anke wird bestätigen können, dass dies oft zu interkulturellen Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Deutschen und Engländern führt. Deutsche denken ja eher in "worst cases", um auf alles vorbereitet zu sein. Aber man kann nicht Optimist sein und zugleich das Schlimmste annehmen.

Ich habe durch meine Mutter eine sehr britische Erziehung genossen, was die Umgangsformen angeht. Dies hatte zur Folge, das ich im Berufsleben "um den heißen Brei herumrede", wenn unangenehme Dinge angesprochen werden müssen. Dafür habe ich in einer Agentur den Spruch zu hören bekommen: "Wir sind hier keine Agentur für Minnesang, Herr Weber!" Deutsche kommen lieber schnell auf den Punkt, auch den wunden. "Die Wahrheit tut weh.", heisst es dann. Doch man kann Wahrheiten auch so sagen, dass man den anderen zugleich auffängt und sanft bettet - ihn nicht damit allein lässt. Und manche Wahrheit - um wieder auf meine Granny zurückzukommen - muss vielleicht gar nicht erst gesagt werden.

naiko hat gesagt…

hi.
mir gefällt das mit den wahrheiten, die vielleicht gar nicht gesagt werden müssen, sehr! ich habe nämlich immer mal wieder das gefühl,dass manche leute gemeinheiten unter dem deckmantel der wahrheit absondern. gegen jemanden, der ja NUR ehrlich ist, kann kaum etwas gesagt werden, denken diese gestalten dann wohl. ich finde aber, dagegen IST etwas zu sagen. es gibt eine menge "wahrheiten", die zu äußern nur dem "äußerer" was bringt, sonst niemandem. es mag situationen geben, wo das genügt, aber meistens ist es meiner ansicht nach nicht so. das gilt vor allem im "öffentlichen" bereich.
ist es wirklich nötig, einem arbeitkollegen/schulkameraden bei jeder gelegenheit wahrheitsgemäß mitzuteilen,was man von ihm hält? ich denke nicht.

also bin ich guten gewissens weiter lieb in der schule, wenigstens zu meinen kollegen - vor allem zu denen, die ich nicht mag. und sage immer mal wieder auch einfach nicht die wahrheit. (bei schülern funktionirt das weniger gut, die merken eher,wenn man sie anlügt. aber da habe ich wiederum glück, über meine schüler habe ich weit weniger unangenehme wahrheiten in petto...)
ich nütze damit nämlich nicht nur denen, sondern vor allem auch mir. und den gesamtklima.

menschen, an denen mir liegt, bekommen sicher mehr "wahrheiten" ab, aber da lohnt es sich dann auch, genau zu überlegen, wann und wie und ob man sie äußert.
so, werde jetzt vom computer vertrieben.
liebe grüße
n.