21 Dezember 2015

Pädagogikfrust und Frustpädagogik

Heute hätte ich meine Flüchtlinge beinahe vergessen. Lag wohl an meiner Erkältung und einer recht unruhig verlaufenen Nacht – und vielleicht auch ein bisschen an dem Gefühl, dass ich mit meinen Schülern nicht so recht vorankomme.

Mit schlechtem Gewissen, laufender Nase und außer Atem bin ich also heute in die Schule gehetzt. Und mir eine Extradosis Frust abgeholt. Mein Unterricht – sofern ich ihn als ‚meinen‘ bezeichnen kann – läuft immer gleich ab. Ich kriege Arbeitsblätter von der Lehrerin, auf denen einzelne Buchstaben vorgeschrieben sind. Die dürfen die Schüler erst nachmalen, dann selber in die Zeilen schreiben. Dann diktiere ich ein paar Buchstaben, dann sollen sie Silben vorlesen. Das ist genauso langweilig, wie es klingt. Ich kann damit umgehen. Aber die Schüler sind Teenager. Sie wirken oft erschöpft. Sie sind zum Teil keinen Schulunterricht gewöhnt. Alle sind momentan erkältet. Man kann ihnen nicht wirklich vorwerfen, dass sie diese Aufgaben nur mit mäßigem Interesse abspulen und nicht viel davon im Kopf behalten.

Seit ich diesen Unterricht mache, denke ich drüber nach, wie man ihn besser machen könnte. Das Domino-Spiel hat ganz gut funktioniert, war aber im Prinzip nur eine kurze Auflockerungsübung. Trotzdem würde ich es gerne wieder einsetzen, einfach um den Schülern zu zeigen, dass man beim Lernen auch Spaß haben kann. Und natürlich gibt es in der Richtung noch viel mehr Möglichkeiten. Ich habe schon jede Menge Sprachspiele rausgesucht, die man mit ihnen machen kann, wenn sie ein bisschen mehr können. Und überlege, ob ich ihnen einfach mal einen Packen Comics mitbringe. Und dann gibt es natürlich einiges an Smartphone-Apps zum Lesen lernen.

Aber all das geht nicht, weil wir ja die Arbeitsblätter durcharbeiten müssen. Die Klassenlehrerin hat heute extra nochmal betont, ich soll nichts anderes mit ihnen machen, man müsse ja schließlich mal weiterkommen. Da ich eh schon zu spät dran war und ihren regulären Unterricht mit den anderen Kindern nicht noch weiter stören wollte, hab ich die Diskussion mit ihr auf später verschoben und brav den Stoff mit meinen Schülern durchgeackert. Die Fortschritte sind sichtbar, aber nur mit einer großzügigen Lupe. Mein Afghane schreibt immer noch lieber von rechts nach links als umgekehrt, und für alle sind Vokale immer noch eine große, sehr verwirrende Herausforderung. Als der Pausengong uns erlöst, mache ich einen kleinen Versuch der Subversion und frage, ob sie ein Smartphone hätten. Alle bejahen. „Gut“, sage ich, „es gibt da nämlich eine App zum …“ Lesen lernen sage ich nur noch zum leeren Zimmer, meine Schüler sind bereits auf dem Weg in die Pause. Verabschiedet haben sie sich auch nicht. Habe ich was Falsches gesagt? Oder haben sie gar nicht verstanden, dass ich ihnen was sagen wollte?

Da ist mein Hauptproblem. Ich weiß nach vier Wochen immer noch kaum etwas über meine Schüler. Weder das genaue Alter, noch wo sie herkommen, geschweige denn, wie gut sie eigentlich Deutsch können. Ich habe keine Zeit, mit ihnen als Menschen zu interagieren. Zusammen sind wir eine Maschine, die das Programm abspult, mit dem sie gefüttert wird, mehr nicht. Ich bin kein Fachmann, aber für mich ist diese Art zu Lernen tiefstes Mittelalter.

Und da ist das zweite Problem: Ich bin tatsächlich kein Fachmann. Ich kann mich nur von meinem Bauchgefühl und dem, was ich mir notdürftig im Internet anlese, leiten lassen. Die Klassenlehrerin ist Grundschullehrerin – sie wird ja schließlich wissen, wie man am besten Lesen und Schreiben lernt. Oder?

Sie fragt mich nach den Fortschritten meiner Schüler und kommentiert, dass sie da null Lernbereitschaft sieht. „Die haben einfach keine Lust.“ Hm. Kann ich mir gut vorstellen, denke ich mir. Vielleicht kann man ihnen ja Lust machen? Ich erzähle ihr von der App, und will sie fragen, wie ich es bewerkstelligen kann, dass die Schüler die kriegen (meinen dreien würde ich sie ohne zu Zögern schenken, vier Euro pro Schüler kann ich mir schon mal leisten, aber wenn das die anderen mitkriegen, gibt’s wahrscheinlich Ärger). Aber so weit komme ich gar nicht. „Sowas hat ja in der Schule nichts verloren“, würgt sie mich ab. Ähm. Nicht? Und warum genau nicht? Natürlich sollen die Schüler nicht während des Unterrichts zocken. Aber sie sind jetzt über die Ferien zwei Wochen nicht in der Schule. Ich bin mir relativ sicher, dass sie sich in der Zeit nicht viel mit ihren drögen Arbeitsblättern beschäftigen werden.

Während ich noch versuche, die Ignoranz dieser Aussage zu verarbeiten, kommt eine Schülerin zu uns. Sie entschuldigt sich bei der Lehrerin, dass sie heute im Test so schlecht war. „Ja, das habe ich gesehen.“ Anklagend hält die Lehrerin ihr ihren Test unter die Nase. „Warum hast du denn hier nichts geschrieben? Und da? Das wird eine Vier. Traurig.“ Das Mädchen schluckt. Ich zwinkere ihr zu und lächle sie aufmunternd an. Mehr fällt mir nicht ein – der Lehrerin vor den Kindern widersprechen kommt wahrscheinlich nicht so gut. Das heißt, eigentlich wäre es das einzig Wahre. Denn ich bin mit der Art, wie sie mit den Kindern umgeht, nicht einverstanden. Aber schließlich muss ich mit ihr zusammenarbeiten. Und sie signalisiert ziemlich eindeutig, dass sie nicht gut damit umgehen kann, wenn man sie in Frage stellt.

Sie schließt das Klassenzimmer ab und beschwert sich, dass man die Kinder in jeder Pause rausscheuchen muss, weil sie immer wieder versuchen, sich davor zu drücken und drin zu bleiben. Sie schimpft über einen Schüler, der unbeherrscht reagiert, wenn er kritisiert wird. Sie ärgert sich über einen Schüler, der sie nicht ansieht, wenn sie mit ihm spricht. Scheinen mir alles ziemlich alltägliche Probleme zu sein. Vielleicht ist diese Alltäglichkeit ja auch tatsächlich gut für die Kinder. Die allgemein negative Haltung allerdings – die sicher nicht. Nicht für meine drei jedenfalls. Ich stecke in dieser Maschine fest und sehe noch nicht so recht, wie ich da rauskomme. Auf keinen Fall will ich meine Schüler hängen lassen. Auch wenn ich mangels Zeit zum Reden noch immer keine besonders persönliche Beziehung zu ihnen habe, ist meine Entschlossenheit, genau diesen Dreien zu helfen, kein bisschen angeknackst. Ich bin mir sicher, dass ich das schaffen kann. (Da ist er wieder, der wichtige Satz.) Ich bin mir nur noch nicht sicher, wie ich meinen Schülern trotz ihrer Lehrerin helfen kann.

15 Dezember 2015

26 bunte Buchstaben und 22 Liter Wasser

Als ich gestern vor der Klasse auf die Lehrerin wartete, kam einer der Schüler, die schon besser Deutsch können, mit seinem Arbeitsblatt zu mir und deutete auf einen Satz. „Eine Spülmaschine verbraucht durchschnittlich 22 Liter Wasser pro Spülgang.“ Er sah mich fragend an. „22 Liter? Richtig?“ Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung. Genausowenig, wie ich weiß, wieviel Wasser man in von Dürre bedrohten Gebieten so durchschnittlich pro Tag zur Verfügung hat? Wie lange kann man mit 22 Litern überleben? Zwei Wochen? Länger? Ich fühle mich beschämt. We are poor because you are rich.* Genauso unvorstellbar wie das Leid der Flüchtlinge ist, wie gut es uns im Kontrast zu fast dem ganzen Rest der Welt geht. Aber vielleicht will der Schüler auch nur wissen, ob er die Aufgabe richtig gerechnet hat? „Ja“, sage ich, „stimmt. Ganz schön viel, oder?“ Ich glaube, er versteht meine Antwort ebensowenig wie ich seine Frage.

Seit drei Wochen unterrichte ich ‚meine‘ Flüchtlinge jetzt. Und komme mir vor wie der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein. Zwei Stunden die Woche sind nichts, selbst wenn man in der Zeit nur zwei bis fünf Kinder unterrichtet.

Gestern ging ich einigermaßen schlecht gelaunt in den Unterricht. Mein lange und sehnlich erwartetes Spielewochenende mit Freunden ist darmgrippemittelohrentzündungerkältungsbedingt ins Wasser gefallen, meine Arbeit stresst mich zur Zeit mehr als üblich, und irgendwie habe ich das Gefühl, dass mein Beitrag zur Unterstützung der Flüchtlinge … nicht dramatisch genug ist. Wenn ich Berichte lese und Bilder sehe, wie schrecklich die Situation für die Menschen auf der Flucht ist, was sie mitmachen und entbehren und riskieren, dann möchte ich ins Auto steigen und die gesamte Balkanroute abfahren, um Essen und Kleidung zu verteilen, ich möchte auf einem Schiff übers Mittelmeer fahren und sie aus ihren seeuntauglichen Nussschalen fischen, ich will nicht ein Kind, sondern eine ganze Horde Kinder adoptieren … einfach weil ich es nicht aushalte, wie schlecht es den Leuten geht. Natürlich ist das unmöglich und überzogen. Oder? Kann man überhaupt überzogen empathisch sein? Das Gegenteil scheint ja für viele Leute auch gut zu funktionieren …

Stattdessen sitze ich hier und übe mit zwei Kindern das R, das T und das N. Das Lesen ist für meine Kandidaten anstrengend bis qualvoll. Die Wörter werden in der falschen Richtung geschrieben, und wenn sich die Buchstaben zu Silben zusammenfügen sollen, sind immer die dummen Buchstabier-Vokale (Be, Ce, De …) im Weg. Irgendwann – meist frustrierend schnell – versagt die Konzentration und alles verschwimmt zu einem unleserlichen Brei.

Beim letzten Mal hatte ich als Ergänzung zu den grau bedruckten Arbeitsblättern, auf denen man einzelne Buchstaben ordentlich in Zeilen schreiben lernt, ein paar bunt bebilderte Buchstaben mitgebracht. (Ein Igel war nicht dabei, das I war mit einem Indianer illustriert – für deutsche Kinder sicherlich naheliegend, aber liest man in Syrien oder Afghanistan Indianergeschichten?) Der Lehrerin schien das nicht so recht zu sein, die Kinder würden ja die Vokabeln nicht kennen, also würden die Bilder auch nichts nützen. Ich hatte eher das Gefühl, die Schüler stürzen sich begierig auf alles Konkrete, Praktische, was sie kriegen können, und versuchen auf einmal auch die Wörter zu lesen, zu denen sie noch nicht alle Buchstaben kennen. Trotzdem habe ich heute einen anderen Ansatz versucht. Nicht zuletzt ermutigt durch Gespräche mit einer Bekannten, die als Sozialpädagogin in der Bayernkaserne arbeitet, habe ich meinen Kindern ein Buchstabendomino aus dem Spielzeugschrank geklaut und zur Auflockerung zwischendrin mit den Flüchtlingen gespielt. Und da war es zum ersten Mal: das Gefühl, das etwas zu ihnen durchdringt, dass sie Interesse haben, etwas dankbar aufnehmen. Hinterher hat das Lesen auch besser geklappt, und die Motivation war definitiv größer.

Und ich sehe Fortschritte. Minikleine. Mein Afghane schreibt zwar in etwa auf dem Niveau meiner vierjährigen Tochter (ja, sie ist früh dran). Aber er kriegt immerhin schon einzelne Silben zusammen gelesen. Und der Gesichtsausdruck, als er heute zum ersten Mal seinen Namen entziffert hat, war unbezahlbar. „Name? My name??“

Der Weg, der noch vor meinen Schülern liegt, bis überhaupt irgendeine Verständigung möglich ist, scheint mir fast so lang und mühsam wie die Reise, die sie hinter sich haben. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil sie sich nach all den Strapazen immer noch so anstrengen müssen, um endlich wirklich hier anzukommen. Aber was bleibt ihnen sonst übrig?

Ich trage meine Dominokarten und mein schlechtes Gewissen nach Hause. Doch irgendwie ist die miese Laune weg. Einen ganz kleinen Schritt sind meine Schüler heute weitergekommen. Während ich mir einen Belohnungskaffee mache, räume ich die Spülmaschine ein.


* Der Film, aus dem dieses Zitat stammt, ist übrigens sehr empfehlenswert. Er stammt aus den frühen 90ern und nimmt praktisch alles vorweg, was gerade passiert. Werde ihn hier sicherlich noch des Öfteren zitieren.

02 Dezember 2015

Gibt es in Nigeria eigentlich Igel?



Seit Montag bin ich endgültig unter die Gutmenschen gegangen: Einmal pro Woche gebe ich ab sofort ein paar Flüchtlingskinder Sprachunterricht. Und werde versuchen, hier regelmäßig darüber zu berichten.

Vor dem ersten Mal war ich einigermaßen aufgeregt. Sprachunterricht ist mir vertraut, aber eben nur in der Eigenschaft als Schüler. Die eigene Sprache, die man als Kind ja völlig ohne theoretischen Unterbau erworben hat, jemandem beizubringen, mit dem man ggf. nur mit Händen und Füßen kommunizieren kann, scheint mir eigentlich schon schwierig genug, so dass ich dafür gern etwas extra Vorbereitung hätte (vorzugsweise ein DaF-Studium, wenigstens in Kurzform). Ist aber wohl nicht drin. Also muss man sich halt mit dem bisschen gesunden Menschenverstand, über den man verfügt, sowie möglichst viel Einfühlungsvermögen begnügen, und das Beste draus machen. Mein Fazit nach den ersten zwei Stunden: Das wird nicht leicht.

Aus einer von zwei Klassen mit je ca. 25 Kindern zwischen (geschätzt) 14 und 17 Jahren unterstütze ich diejenigen, die noch gar nicht oder sehr wenig lesen und schreiben können. Das ganze parallel zum Unterricht, in einem ca. 2 qm großen Garderobenraum mit einem Tisch und ein paar Stühlen drin. Dazu ein paar Arbeitsblätter und Stifte. Sonst nix. Die erste Stunde sind zwei Mädchen dran, die zweite drei Jungs. Ich weiß nichts über die Kinder, und soll sie auch möglichst nichts fragen – alle sind unbegleitet, keiner weiß, was mit den Eltern ist, Retraumatisierung ist unbedingt zu vermeiden. Die einfachsten Wörter, die man schon mit zwei Buchstaben schreiben könnte, fallen damit aus: Mama und Papa.

Als ich in die Klasse komme (zu spät, denn unsere Schulen werden nach Unterrichtsbeginn heutzutage offenbar alle abgesperrt, was nichts mit den Flüchtlingen, sondern mit der allgemeinen Unsicherheit unserer Straßen zu tun hat, werden ja dauernd Kinder aus der Schule entführt – oder?), werde ich von den Jugendlichen fröhlich mit „Guten Morgen, Frau Braun“ begrüßt, einige grinsen, andere blödeln, manche schreiben schon – scheinbar ganz normaler Schulalltag, nur mit insgesamt etwas dunklerem Hautton. Die Lehrerin stellt mich kurz vor, drückt mir Arbeitsblätter und zwei Kinder in die Hand und wirft uns zu dritt ins kalte Wasser.

Die Mädchen sitzen in dem beheizten Zimmer mit Mütze respektive Kopftuch und scheinen trotz warmer Kleidung zu frieren. Beide sprechen ein paar Worte Englisch und ebenso wenige Deutsch. Die eine kämpft mit jedem einzelnen Buchstaben. Die andere schreibt mir nach ein paar Minuten das ganze Alphabet hin und fragt, ob sie jetzt wieder in den richtigen Unterricht darf. Offenbar ist die Information der Lehrerin nicht ganz richtig. Bei 25 Kindern hat sie wahrscheinlich auch nicht die Zeit, das vorhandene Wissen bei jedem einzeln abzuprüfen. Prompt will die Lehrerin sie wieder rauswerfen, bis sie spontan die Worte an der Tafel vorliest, und uns aufmalt, was sie nicht kann: 3 + 3. Memo an mich: Für nächstes Mal Mathe vorbereiten.

Nach der Pause sind die Jungs dran. Keine Ahnung, ob die Geschlechtertrennung beabsichtigt ist. Generell habe ich zu wenig Info: Wo die Kinder herkommen, welche Sprache sie sprechen, welchen kulturellen/religiösen Hintergrund sie haben, wo sie wohnen (hier am Ort gibt es insgesamt nur ca. 70 Flüchtlinge, davon wird nicht über zwei Drittel aus unbegleiteten Jugendlichen bestehen), was sie mit dem Rest des Tages machen. Im Internet findet sich kaum etwas darüber, wie man mit den sogenannten umF, unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen umgeht. Und obwohl einiges an kostenlosem Unterrichtsmaterial vorhanden ist, findet sich fast nichts zur Alphabetisierung. Ich male dem Mädchen, das besonders mit dem i zu kämpfen hat, einen Igel auf. Sie erkennt das Tier nicht. Was durchaus an meiner Zeichnung liegen könnte. Aber gibt es in Nigeria überhaupt Igel? Selbst wenn, haben die dort bestimmt einen Namen, der nicht mit i beginnt. Wo fängt man da an?

Die Jungs sind lebhafter als die Mädchen, aber auch sie malen brav die Buchstaben ab. Bis sich herausstellt, dass auch sie das Alphabet schon größtenteils können. Nur einer sitzt still da, beschattet die Augen mit der Hand und scheint sich unwohl zu fühlen. Ich versuche, ihn zu motivieren, ohne zu drängen, während der andere seinen Bleistiftspitzer mit brutaler Gewalt, aber in aller Seelenruhe auseinandernimmt, um den Stift dann nur mithilfe der Klinge zu spitzen. (Später stellt sich heraus, dass der Spitzer einer Mitschülerin gehörte!) Der Tisch ist voller Plastiksplitter, Bleistiftspäne und vollgeschriebener Arbeitsblätter, der Gong lässt auf sich warten, und ich weiß nicht, was ich mit den Jungs noch anfangen soll. Sie erzählen mir, dass sie alle nicht in der Schule waren, das Alphabet selbständig gelernt haben. Einer malt mir die Buchstaben nochmal in seiner Sprache auf. Was spricht man eigentlich in Afghanistan? Ich überlege, was ich fragen darf und was zu heikel ist. Der Gong kommt immer noch nicht. Ich schaue auf meine Handyuhr, und die Jungs erhaschen einen Blick auf das Foto von Lenny, das mir als Bildschirmhintergrund dient. Ich sage, das ist mein Sohn, und zeige noch ein Bild von Matilda. Sie wollen wissen, was Vater und Mutter auf Deutsch heißt. Beide deuten auf sich. „Zu Hause kein Vater, kein Mutter.“ Der dritte malt immer noch stumm und verbissen die Buchstaben ab. Wie reagiert man auf sowas? Natürlich sind Offenheit und eine ehrliche Reaktion eigentlich immer das Beste. Aber inwieweit trage ich zur Retraumatisierung bei, wenn ich ihnen zeige, wie sehr es mir das Herz zerreißt? „Es tut mir so leid“, sage ich. Worthülsen im Angesicht eines unvorstellbaren Dramas, das für diese Kinder doch Alltag ist. „Aber jetzt, in Deutschland, gut mit Betreuer“, fahren sie unbekümmert fort. Können die Betreuer vom Jugendamt, die sich – im Schichtsystem wechselnd – um mehrere Jugendliche gleichzeitig kümmern, die verlorenen Eltern ersetzen? Schwer vorstellbar. Aber hier sitzen sie, lümmeln sich auf den Stühlen, unterhalten sich nebenher und benehmen sich wie ganz normale Schüler. Und das ist vielleicht das einzig Richtige: Alltag und Normalität.

Die Lehrerin steckt den Kopf ins Zimmer. Ich habe meine Zeit um eine halbe Stunde überzogen. Nein, hier gibt es keinen Gong zwischen den Stunden, nur zur Pause. Ich lasse die Jungs ihr letztes Arbeitsblatt fertigmachen und schicke sie wieder in die Klasse. „Auf Wiedersehen, Frau Braun“, verabschieden mich alle Kinder im Chor.
 
Ich fühle mich erschöpft. Unterricht in Kleingruppen ist sehr konzentrationsintensiv. Die Aufgabe ist auf der einen Seite nicht anspruchsvoll, auf der anderen Seite fühle ich mich überfordert, da ich weder weiß, wie ich richtig vorgehen soll, noch was die Lehrerin sich für Ergebnisse von meinem Unterricht erhofft. Das nächste Mal werde ich wohl ein paar eigene Materialien als Ergänzung mitbringen. Und mich darauf verlassen, dass ich den Kindern das Wichtigste schon gesagt habe, und es trotzdem in jeder einzelnen Stunde wiederholen, bis sie es glauben: Wir schaffen das. Du schaffst das.