05 Juli 2016

Not about me

Der Ramadan liegt in den letzten Zügen. Oder vielmehr die Fastenden, habe ich das Gefühl. Meine Kids sind müde, erschöpft und seltsam aufgekratzt. Der Lärmpegel in der Klasse ist deutlich höher, die Konzentration lässt zu wünschen übrig. Manche haben das Fasten tatsächlich abgebrochen – geht Assimilierung so schnell? Oder sind sie wie ich zu dem Schluss gekommen, dass sie noch als Reisende zählen und deshalb nicht am Fasten teilnehmen müssen? Die anderen halten tapfer durch, schlafen nachts kaum, weil sie ja nicht nur essen müssen, sondern dann auch noch die Küche in der Unterkunft aufräumen und putzen, abends ebenso wie morgens vor der Schule. Da bleibt nicht viel Energie für Perfekt und Präpositionen übrig.

Nur heute noch, denke ich mir, als ich am Montag vor der Klassenzimmertür stehe. Und überlege, was ich mit der Tüte voller Süßigkeiten mache, die ich mitgebracht habe. Am Wochenende war Festumzug hier im Ort, und meine Kinder haben den besten Platz zum Süßkram einsammeln erwischt. Natürlich haben sie sich alles gegriffen, was sie kriegen konnten, auch Sachen, die sie gar nicht mögen. (Ja, es gibt Süßigkeiten, die meine Kinder nicht mögen.) Die und ein paar wenige andere haben sie dann aussortiert, um sie an die Flüchtlinge weiterzugeben. Echte Großzügigkeit wäre es natürlich, auch von den Sachen was abzugeben, die man mag. Aber irgendwie will ich sie dazu nicht zwingen, denn was bringt schon erzwungene Großzügigkeit, außer das Gefühl, dass man Teilen nicht mag? Zumal ich sie ja schlecht in die Schule mitnehmen kann, damit sie den Lohn für ihr Teilen – die Freude der anderen Kinder – miterleben können. Das ist glaube ich für den Lerneffekt immens wichtig.

Für mich hingegen darf es eigentlich nicht wichtig sein. Klar, das Helfen ist befriedigend, ich fühle mich besser, wenn ich am Montag vom Unterricht heimkomme, ich schreibe Blogeinträge, damit alle wissen, was für ein toller Mensch ich doch bin. ;) Aber in der Schule geht es nur um die Kinder. Ich habe mich mittlerweile an den Gedanken gewöhnt, dass ich ihnen nicht annähernd so viel helfen kann, wie ich es eigentlich für wichtig und nötig hielte – sonst hätte ich mittlerweile mindestens 8 – 12 von ihnen adoptiert. Und dass ich selten den ‚Lohn‘ meiner Arbeit zu sehen bekomme. Ich bin eben nur einmal die Woche da, das reicht für etwas Grammatik, aber nicht, um einen substanziellen Unterschied in jemandes Leben zu machen. Ich gehe hin, gebe zwei Stunden lang, was ich zu geben habe, und hoffe einfach, dass es für die Kinder alles ein kleines bisschen besser macht. Und muss mit der Tatsache leben, dass ich viele schon im nächsten Schuljahr nicht mehr wiedersehen werde. Einige sind in andere Unterkünfte verlegt worden, andere schließen die Schule ab.

Etwas kriege ich aber doch zurück. Seit ich meine Schüler habe, hat sich mein eigenes Verhalten verändert. Wenn ich auf der Straße jemandem begegne, der ‚anders‘ aussieht – dunkelhäutig, fremdländisch, mit Kopftuch … - schaue ich ihn/sie direkt an und lächle freundlich. Früher habe ich das nicht getan. Auch wenn ich mich nicht wirklich für rassistisch halte, schwang doch bisher immer die Angst mit, durch zu offen zur Schau getragene Freundlichkeit zu irgendwas einzuladen. Möglicherweise eine Altlast aus meiner Schulzeit, oder aber einfach Zeichen meiner nach jahrelanger harter Arbeit immer noch nicht ganz überwundenen Schüchternheit … und der grundlegenden Furcht vor dem Fremden, die jeder Mensch mehr oder weniger stark in sich trägt. Die ist jetzt völlig verpufft. Das hat nur ein paar Wochen gedauert. Ich wünschte, viel mehr Menschen hätten die Gelegenheit zu so einer Erfahrung ...

Also habe ich trotz aller Flüchtigkeit meiner Bemühungen doch sehr viel gewonnen. In mittlerweile guter alter Tradition muss ich hierzu wieder mal ein Literaturzitat bemühen, diesmal sogar eines meiner liebsten überhaupt (hätte gerne, dass das mal auf meinem Grabstein steht): „Ich habe die Farbe des Weizens gewonnen.“ Dieser Satz (zugegebenermaßen ohne Kontext nicht zu verstehen, also ruhig das ganze verlinkte Kapitel lesen) drückt eigentlich alles aus, was man sich vom Leben erwarten kann.

Und so verstecke ich die Süßigkeitentüte hinter meinem Rücken, als ich das Klassenzimmer betrete, und drücke sie in der Pause der Klassenlehrerin in die Hand, damit sie sie den Kindern nach Ende des Ramadans weitergibt. Ich werde die Freude der Kinder nicht zu sehen bekommen. Aber ich bin sicher, dass sie sich freuen werden. Das reicht.

09 Juni 2016

Amatus sum. Amatus es. Amatus est.

Irgendwie sind meine Überschriften in letzter Zeit häufig fremdsprachig. Aber keine Angst, ich fange jetzt nicht an, auf Latein zu schreiben. Ich zitiere nur einen Film, der mir in der letzten Unterrichtsstunde in den Sinn kam, als wir Übungen zum Futur I machten.

Eigentlich war ich überzeugt, im Film wäre das Verb auch im Futur – I und II – konjugiert worden, so dass die Bedeutung „Ich liebe, ich werde lieben, ich werde geliebt haben“ dabei rauskommt (und letzteres traurigerweise impliziert, dass die Liebe irgendwann endet). Aber diese falsche Erinnerung ist leicht zu entschuldigen, denn der Film, Das Reich der Sonne, ist so alt, das der Hauptdarsteller Christian Bale damals 13 Jahre alt war. Ja, ich hab den im Kino gesehen. 1987. Themawechsel!

In Wirklichkeit sagt Jim, der in einem japanischen Kriegsgefangenenlager internierte Junge, im Film also „Ich werde geliebt, du wirst geliebt, er wird geliebt.“ Sein britischer Mentor im Lager bringt ihm ausgerechnet Latein bei. Ganz sicher das Wichtigste, was ein Kind in so einer Situation lernen kann.

Genauso komme ich mir auch oft vor, wenn ich mit meinen Schülern, die z.T. gerade mal drei, vier Monate hier sind, scheinbar sinnlose Vokabeln übe oder mich mit ihnen an grammatikalischen Details festbeiße, für die jeder vernünftige Mensch die deutsche Sprache zum Teufel wünschen muss, und die zur Verständigung keineswegs unabdingbar sind.

Aber genau wie der Unterricht im Film ist der reale Unterricht etwas, auf das die Schüler sich konzentrieren und woran sie sich festhalten können. Wenn die aus meiner subjektiven Sicht völlig regelfreie Partizipbildung im Deutschen nervig genug ist, um kurzzeitig von Einsamkeit, Heimweh und Traumata abzulenken, dann ist sie vielleicht gar nicht mal so verfluchenswert.

Also nehmen wir zehn Beispielsätze und setzen das Verb ins Futur. „Ich werde Gitarre spielen lernen.“ „Ich werde auf den Berg steigen.“ „Ich werde bei Freunden übernachten.“ Dann sollen die Schüler beschreiben, was sie in den Sommerferien machen werden, und was in fünf Jahren. Viele sind ob der Langfristigkeit der Frage ratlos. (War ich in Bewerbungsgesprächen auch immer.) Manche schreiben Berufswünsche auf, andere Reiseziele. Einer aber schreibt über seine Sommerferienpläne: „Ich werde weinen. Ich werde traurig.“ Und in fünf Jahren: „Ich werde einen guten Freund haben.“

Er ist ein lieber, sanftmütiger Junge, der gern lacht und an alle Kekse verteilt, und sich leicht von den typischen Teenager-Hänseleien der anderen kränken lässt. Ein Junge, wie es ihn wahrscheinlich in jeder Klasse jeder Schule überall gibt, mit ganz normalen Sorgen und Problemen.

Aber zu wem kann er damit gehen? Seine Eltern sind, wie die der meisten Schüler, „nicht da“, mein Lieblingseuphemismus. Können ein Heimbetreuer, ein Lehrer, ein Haufen aus aller Herren Länder zusammengewürfelter Klassenkameraden und Mitbewohner auch nur annähernd genug Stabilität bieten, damit man die Pubertät übersteht, geschweige denn mit dem fertig wird, was man während und vor der Flucht durchmachen musste?

Oder, in (hoffentlich korrektem) Latein gefragt: Amati sunt? Wer liebt diese Kinder eigentlich?

25 April 2016

Starved for Stories


Am Wochenende war Tag des Buches. (Für mich persönlich war eher Tag der Schwerkraft mit unliebsamen Folgen, aber wenigstens sind keine Bücher runtergefallen, und alle Familienmitglieder haben sich mittlerweile halbwegs von diversen Stürzen erholt.) Jedenfalls hat unsere örtliche Buchhandlung das zum Anlass genommen, die Kinder der Ü-Klasse einzuladen und ihnen ein Buch zu schenken. Netterweise am Montag, wo ich sowieso immer in die Schule komme, drum durfte ich mit.

Wenn man sich jetzt einen Haufen 16- bis 18jähriger Hauptschüler (nichts anderes sind Schüler der Mittelschule ja) in einer kleinen Buchhandlung vorstellt, erwartet man ein bisschen sowas wie eine Gruppe Grillfans im Veganerladen. Milde Langeweile bis aktives Desinteresse, noch verstärkt durch die Tatsache, dass alle Bücher in einer den Schülern fremden Sprache, also noch weniger zugänglich sind. So das Vorurteil. Doch weit gefehlt. Die Kids fielen geradezu über die Bücher her. Alles von Kochbüchern über Sportbücher bis zu Liebesromanen schien sie zu interessieren. Sogar diverse Kinderbücher wurden aufmerksamst studiert, während die Buchhändlerin erklärte, wo die kleinen Bücher eigentlich herkommen. „Zuerst denkt ein Mensch“, beschrieb einer der Jungs auf ihre Frage hin den Ursprung eines Buches. Zwar gibt es genug Werke, die beweisen, dass man sich das mit dem Denken auch sparen kann, aber prinzipiell finde ich es toll, dass er zuerst an den Autoren gedacht hat, und nicht (wie ich Banausin) an Papierherstellung oder Buchbinderei.

Zum Schluss gab’s ein Geschenk für alle. Einige wirkten fast enttäuscht, dass sie sich nicht selbst eines aussuchen durften. Und tatsächlich wirkte die Geschichte des 11jährigen deutschen Beinahe-Teenies, dessen größtes Problem es war, dass er den ganzen Sommerurlaub mit seinen Eltern in Amerika verbringen musste, und das auch noch an einem Ort ohne Internet, auf mich nicht gerade wie Stoff, mit dem sich meine Flüchtlingskinder identifizieren können würden.

Aber schon wieder lag ich falsch. In der anschließenden Stunde begannen wir das Buch gemeinsam zu lesen. Und Mann, haben die sich da reingestürzt. Selbst die, die noch wirklich wenig Deutsch können, kämpften sich tapfer Absatz für Absatz weiter. Wenn derjenige, der mit Vorlesen dran war, ins Stocken geriet, halfen drei oder vier andere aus. Bei manchen konnte man sehen, wie sie selbständig weiterlasen, obwohl wir noch nicht so weit waren. Nachdem ich die Stunde bereits um 10 Minuten überzogen hatte, konnte ich eins der Mädchen nur dazu bewegen, zurück ins Klassenzimmer zu gehen, indem ich noch schnell einen weiteren Absatz mit ihr las.

Und ist am Anfang des Buches nicht mal irgendwas Spannendes passiert. Was zweierlei beweist. Erstens: Selbst nach einem halben Jahr mit meinen Flüchtlingen stecke ich voller Vorurteile. Die ich wohl besser immer wieder bewusst überprüfen sollte. Und zweitens: Der Mensch braucht Geschichten. Vielleicht nicht so dringend wie Nahrung oder Luft zum Atmen oder Sicherheit. Aber fast.

Und ich freu mich tierisch aufs Weiterlesen mit den Kids.

18 Februar 2016

Seesterne werfen

Diese Woche hatte das Helfen ein bisschen was von der Dramatik, die man sich von Ferne vielleicht vorstellt. Wie ihr ja hier schon lesen konntet, verläuft mein bisschen Unterricht bisher eher unspektakulär. Mit den Kindern über ihre persönlichen Schicksale zu sprechen, ist uns untersagt, alle für unbegleitete Minderjährige kritischen Themen wie Familie sollen wir tunlichst vermeiden. Und ohnehin ist die Kommunikation nicht leicht, weil ich meistens die kriege, die die meiste Unterstützung brauchen, sprich noch nicht wirklich kommunizieren können.

Aber Tränen sind eine universelle Sprache. Völlig unvermittelt begann eine meiner Somalierinnen zu weinen, als wir gerade das Adjektiv „klug“ steigerten. Ich denke nicht, dass das der Auslöser war. Allerdings könnte ich es nicht genau sagen, denn siehe oben: Unter normalen Umständen können wir uns über halbwegs konkrete Dinge mit viel Händen und Füßen einigermaßen verständigen. Unter Tränen und emotionalem Stress über so abstrakte Dinge wie Gefühle und Ängste? Nahezu unmöglich. Immerhin war ihre Landsmännin (Landsfrau?), die zukünftige Krankenschwester, anwesend und dolmetschte ein wenig. Der Betreuer in ihrer Unterkunft ist „nicht gut“. Was immer das heißen mag. „Mama und Papa sind nicht hier.“ Immer wieder deutete sie auf ihren Kopf, dort liege das Problem. Verständlich, dass sie nach allem, was sie erlebt haben muss, psychische Probleme hat. Aber finde mal einen auf traumatisierte Jugendliche spezialisierten Psychiater, der kurzfristig einen Termin frei hat – und Somali spricht!

Die Vorstellung, es endlich in ein sicheres Land zu schaffen, und dann in einer Blase der Einsamkeit gefangen zu sein, mangels Sprachkenntnis dazu verurteilt, über das zu schweigen, was einen innerlich auffrisst, ist kommt meiner Idee einer kafkaesken Hölle schon ziemlich nahe.

Was also tun? Weiter Adjektive steigern kommt erstmal nicht in Frage. Ich würde das Mädchen gern in den Arm nehmen, aber ich bin mir nicht sicher, inwieweit Körperlichkeiten für sie (kulturell und anderweitig) akzeptabel sind, also lege ich ihr nur tröstend die Hand auf den Arm und versuche, meine eigenen Tränen herunterzuschlucken. Sage ihr, dass ich gern helfen möchte, aber nicht weiß, wie. Ihre Mitschülerin erklärt, dass sie nachts im Dunkeln Angst hat – wobei ihr Gesichtsausdruck, mit dem sie Angst pantomimisch darstellt, eigentlich nur mit „nackter Terror“ beschrieben werden kann – aber kein Licht anmachen darf, weil die anderen sonst nicht schlafen können. Ich verspreche, ihr das nächste Mal eine LED-Kerze für unter die Bettdecke mitzubringen. Immer noch laufen ihr die Tränen übers Gesicht, und sie gibt dabei kein einziges Geräusch von sich. Nichtmal ihre Schultern zucken. Irgendwo habe ich kürzlich gelesen, dass Flüchtlingskinder gelernt haben, sich unsichtbar zu machen und nicht aufzufallen, und sich erst wieder daran gewöhnen müssen, dass sie es einfordern dürfen, wahrgenommen zu werden. Den Kontext, die Gründe, warum dieses Unsichtbarwerden nötig war, will ich mir erst gar nicht vorstellen.

Ich rede gegen meine eigene Hilflosigkeit an. Finde eine sehr wichtige Anwendung für Adjektiv-Steigerungen, konkret den Superlativ von mutig: „Ihr seid die mutigsten Menschen, die ich kenne. Ihr habt Dinge erlebt, die ich mir nicht mal vorstellen kann, und habt es hierher geschafft. Ihr seid Helden.“

„Was ist mutig?“, fragt die Mitschülerin der Weinenden. „Was ist Held?“ Mit Pantomime komme ich hier nicht weit. „Mutig ist, wenn man keine Angst hat. Und ein Held …“ Ich überlege, ob ich Beispiele wie Superman anbringen soll. Aber das ist das falsche Bild. Mir fällt ein Zitat aus einem Online-Comic ein: 'I am a superhero because I have superpowers. They are superheros because they do not.'  „Ein Held ist man, wenn man Angst vor etwas hat, es aber trotzdem tut“, versuche ich zu erklären.

Viel mehr kann ich nicht für sie tun. Oder? Oder? Wenn ich mich einmische, überschreite ich die Grenzen meines ‚Reviers‘ als freiwilliger Helfer. Hier müssen eindeutig die Profis ran. Oder? Meine Lehrerin schaut mich fragend an, als ich ihr ihre noch nicht wieder ganz gefasste Schülerin zurückbringe. Ich erkläre ihr, was passiert ist, und spreche die „nicht gute“ Betreuungssituation im Heim an. Die ist ihr wohl bekannt, aber mehr sagt sie nicht dazu. Als ich versuche, mit ihre zu besprechen, wie man dem Mädchen helfen könnte, kündigt sie mir statt dessen an, als nächstes hätte sie eine anspruchsvolle Aufgabe für mich.

Als nächstes? Eigentlich fand ich das gerade schon mehr als anspruchsvoll. Insofern ist es quasi Erholung, mit den Jungs aus Afghanistan Landeskunde zu üben und ihnen Angelina Merkel (Bilder in meinem Kopf!!!) und den Unterschied zwischen Mindestwahlalter und kommunalen Wahlperioden (nein, wir wählen den Stadtrat nicht nur alle 18 Jahre neu, auch wenn es sich so anfühlt) näherzubringen. Wir haben unseren Spaß.

Trotzdem lässt mich die Szene von vorhin nicht los. Die Unterkunft der Mädchen liegt im Nachbarort, d.h. unser Rathaus – das auf mich einen extrem engagierten und hilfsbereiten Eindruck macht – ist nicht zuständig, ebensowenig der Helferkreis, den ich kenne. Wenn ich jetzt also in der Nachbargemeinde anrufe und nachfrage, ist das, wie man auf gut bayrisch sagt, nicht furchtbar gschaftlhuberisch (Hochdeutsche Annährung: wichtigtuerisch)? So richtig geht’s mich ja nichts an, und viel kann ich ohnehin nicht an ihrer Situation ändern. Oder?

Ich muss an ein anderes Kind denken, das ich vor knapp 2 Jahren kennenlernte (außerhalb meines eigenen sozialen Umfelds, also garantiert niemand, den ihr kennt). Ich hatte den Verdacht, dass es misshandelt wurde, und schaltete das Jugendamt ein. Und dachte, ich hätte damit meine Schuldigkeit getan. Doch das Kind sah von Woche zu Woche schlimmer aus und es schien nichts zu passieren. Aber die Zuständigen wussten schließlich Bescheid. Der Rest war nicht meine Sache. Oder? Mehr als anrufen konnte ich doch schlecht tun. Oder? So dachte ich. Bis ich es nicht mehr aushielt und in einem Anfall von wütendem Aktionismus die Polizei einschaltete, mehreren Jugendamtsmitarbeitern auf den AB sprach und eine sehr emotionale E-mail schickte. Dann erst wurde dem Kind endlich, endlich geholfen.

Die Moral von der Geschichte? Es mag nicht in meine Zuständigkeit fallen. Es mag sein, dass ich nicht viel erreichen kann. Es könnte sein, dass ich mich wichtigmachen muss, was mir tendenziell unangenehm ist. Und ja, mir ist klar, ich kann nicht die ganze Welt retten. Aber manchmal lohnt es sich, ein kleines bisschen mehr zu tun als nur das Nötigste. Auch für eine einzelne Person. Oder vielleicht gerade für eine Einzelne. Schon allein wegen der Geschichte mit den Seesternen.

05 Februar 2016

Seinen Namen für die Integration hergeben

Nach einer Woche Pause war ich diese Woche wieder an meiner Schule. Dort gibt es jetzt drei statt bisher zwei Ü-Klassen, und die Einteilung erfolgt nicht mehr nach Alter, sondern nach Kenntnissen der Schüler. Meine ABC-Schützen werden jetzt also gezielt den ganzen Vormittag alphabetisiert, und müssen nicht mehr mühsam mit dem Unterricht der Lesenden mithalten. Das bedeutet für mich, dass sich meine Aufgaben ändern. Wie genau, ist noch nicht so ganz raus. Diese Woche habe ich mit zwei Somalierinnen gearbeitet, die schon ganz gut lesen und schreiben können und voll motiviert sind.

Das Thema lautete „beim Arzt“, und die erste meiner Schülerinnen erzählte mir gleich begeistert, dass sie Krankenschwester werden will. Kurz musste ich gegen die Versuchung kämpfen, ihr statt grundlegender Gesundheitsvokabeln etwas über Gewerkschaften, schlechte Bezahlung und Arbeitskampf zu erzählen. Dann haben wir uns aber doch auf die Silbentrennung konzentriert. Silbentrennung? Braucht man das heute noch? Ich jedenfalls nicht, nichtmal im Ansatz, obwohl Worte mein Beruf sind. Prompt ließ mich mein Schulwissen im Stich. ST tut es mittlerweile nicht mehr weh, getrennt zu werden, soviel wusste ich noch. Aber heißt es Ta-blet-te oder Tab-le-tte? Und nochmal: Ist das wichtig? Macht nix, wir arbeiten uns 45 Minuten lang durch die Wörter und haben unseren Spaß.

Mit der zweiten Schülerin, einer zukünftigen IT-Spezialistin, darf ich das machen, was ich am besten kann: ein Rollenspiel. Ich bin der Arzt, sie die Patientin, die mir in ganzen Sätzen ihre Beschwerden schildern soll. Sie lacht viel, während mir Zahnweh vorspielt, sich von mir mit dem Bohrer traktieren lässt und schließlich in der Apotheke mit meinem Rezept noch ein Schmerzmittel abholt. Ein paar Wörter zeige ich ihr mithilfe meines Bildwörterbuchs (ich mache hier schamlos Werbung, weil der Verlag es mir netterweise umsonst zugeschickt hat und ich es wirklich hilfreich finde). Als sie dort das Bild einer Spritze entdeckt, deutet sie einigermaßen entsetzt darauf und erzählt, dass sie in Deutschland lange im Krankenhaus war, weil sie Herzprobleme hatte. Sie zeigt mir, wo überall Nadeln in sie reingesteckt wurden. Auf dem Handrücken hat sie eine große Narbe. Sowas kommt nicht von einer Infusion, es sieht eher aus wie eine Brandnarbe oder Verätzung. Ich muss schlucken, kann aber nicht weiter darüber nachdenken, weil sie weitererzählt: Wenn sie jetzt krank wird, sagt sie es ihrem Betreuer nicht, weil sie nicht mehr zum Arzt will. Hier ist viel mehr nötig als Vokabeln. Aber um verlorenes Vertrauen wiederzuherstellen, kann man in 45 Minuten nicht viel tun. Wieder bin ich ein verschwindend kleiner Tropfen auf einen viel zu heißen Stein.

Immerhin bin ich jetzt nicht mehr eine von zwei Helferinnen, sondern eine unter vielen. Letzte Woche gab es ein großes Treffen der verschiedenen Helferkreise hier im Ort, die beschlossen haben zu fusionieren, oder sich zumindest besser zu koordinieren. Bürgermeister, Landratsamt und Lokalpresse sind ebenfalls anwesend und versorgen uns mit Infos. Es scheint, dass unsere Kommunalbehörden ihre Hausaufgaben gemacht haben. Genug Wohnraum ist vorhanden, zusätzlicher wird im Eiltempo (und energieneutraler Holzbauweise) gebaut, im Rathaus wurden neue Stellen geschaffen bzw. umdefiniert, und es gibt eine überregionale Koordination sowohl für die offiziell zuständigen Behörden als auch für die freiwilligen Helferkreise. Auf dem Treffen konnten sich letztere besser strukturieren und Arbeitsgruppen mit festen Zuständigkeiten bilden. Sehr deutsch, ein bisschen McKinsey (= mein Schmähwort für zu viel PowerPoint-Speak) und irgendwie trotzdem immens motivierend. Hab mich hinreißen lassen, meine Mitarbeit an der Helferkreis-Webseite anzubieten. Aber Texte schreiben kann ich ja immer irgendwie zwischenreinquetschen, und alles, was veröffentlicht wird, kann ich zudem auch als Referenz für meine Übersetzertätigkeit verwenden.

Die Schule hat das Treffen genutzt, um weitere Helfer für den Sprachunterricht anzuwerben. Dafür haben sich erstaunlich viele ausländische Studenten gemeldet, was ich aber sehr sinnvoll finde, denn die sind mit den Hürden des Deutschlernens und der Theorie der Grammatik sicherlich viel vertrauter als wir Muttersprachler. Und vielleicht kann man sich auch mal zusammentun und mit den Kids abseits des Unterrichts gemeinsam was machen.

Halse ich mir gerade zu viel Arbeit auf? Gut möglich. Aber obwohl das Ergebnis meiner Arbeit sehr unspektakulär bis unsichtbar ist, fühlt es sich so an, als würde ich (abgesehen von meiner Arbeit als Mutter) endlich mal etwas wirklich Sinnvolles und Wichtiges tun. Da reicht es völlig, wenn meine stets missgelaunte Nigerianerin sich nach dem Unterricht mit einem lapidaren „Today gut!“ von mir verabschiedet, und ich habe den ganzen Tag gute Laune.

Bin ich zu anspruchslos? Ich glaube, Menschen gegenüber, die alles Vertraute aufgegeben oder verloren haben, sollte man mit Ansprüchen eher zurückhaltend sein. Das Leben verlangt ihnen so viel mehr ab, als wir, die wir in Frieden und Wohlstand aufgewachsen sind, es jemals ermessen können. Sie müssen sich so anstrengen, um einen Bruchteil von dem zu erreichen, was für uns selbstverständlich ist.

Als meine angehende Krankenschwester mir ihren Namen sagt, schreibt sie ihn mir zur Sicherheit gleich auf. Sie ist es gewohnt, falsch ausgesprochen zu werden. Eigentlich, sagt sie, beginnt ihr Name nicht mit Ka, so wie sie es geschrieben hat, sondern mit Kha, was wie ein kehliges Cha ausgesprochen wird. „Aber das kann hier keiner sagen, also habe ich meinen Namen geändert“, lächelt sie. Einfach so. Keine große Sache, oder?. Jugendlich verpassen sich selbst und anderen doch sowieso andauernd irgendwelche Spitznamen, die mit ihren eigenen Namen nicht viel zu tun haben. Teil der Abkapselung vom Elternhaus und Identitätsfindung. Was aber, wenn der eigene Name eines der wenigen Dinge ist, die einen mit seiner Herkunft verbinden? Müsste man sich, allein* in einer völlig fremden Gesellschaft, nicht mit aller Macht wenigstens daran festhalten? Und da sitzt dieses junge Mädchen und gibt fröhlich auch diesen Teil ihrer Identität auf, um es uns einfacher zu machen, sie zu integrieren. Ich verlasse den Unterricht mit dem Vorsatz, mir möglichst schnell in allen relevanten Sprachen den Satz „Du bist ein Held“ anzueignen.


*Meine Schüler sind alle unbegleitet, d.h. ihre Familie ist noch im Heimatland… oder gar nicht mehr da.

11 Januar 2016

Another one

Mit gemischten Gefühlen und einer Tasche voll neuer Materialien habe ich heute die Schule betreten. Weil ich mir unsicher war, inwieweit ich die Lehrerin davon überzeugen kann, dass ich diese einsetzen darf. Eigentlich absurd. Aber natürlich kam alles ganz anders.
Der Unterricht dauerte heute nur eine Schulstunde, weil meine Nigerianerin krank ist - und einer meiner Afghanen "jetzt wohl weg". Mehr Info bekam ich dazu nicht. Er war der beste meiner drei Schüler. Ob ihm irgendwas von dem, was er hier gelernt hat, zu Hause etwas nützen wird? (Im Nachhinein frage ich mich auch, ob die Klasse insgesamt so leer aussah, weil viele krank waren, oder weil viele abgeschoben wurden?)
Bis auf Weiteres werde ich also wohl nur noch zwei Kinder unterrichten. Trotz des angeblich anhaltenden Flüchtlingsstroms und neu geschaffener Wohnkapazitäten scheinen hier in unserem verschlafenen Ort nämlich nicht viele Neue anzukommen.
Dafür lief der Unterricht mit meinem verbleibenden Afghanen heute richtig gut: Er sollte erst Silben, dann Wörter entziffern und jeweils aufmalen, was er gerade gelesen hatte. Tomate, Kartoffel, Gabel, Topf... Dann dasselbe mit Worten, die ich ihm diktierte. Das Schreiben lief relativ katastrophal, obwohl er die Buchstaben, wenn man sie einzeln diktiert, schon so gut wie fehlerlos kann. Und ein Künstler wird wohl auch nicht aus ihm werden. Aber der Praxisbezug schien ihm richtig gut zu gefallen.
Sehr geholfen hat uns beim Kommunizieren diesmal das Bildwörterbuch, das ich über Connections von einem Verlag zugeschickt bekommen habe. Damit konnten wir Obst, Gemüse und Essbesteck identifizieren, die ich (ebenfalls künstlerisch unbegabt und nur mit einem Kugelschreiber ausgestattet) sicher nicht eindeutig genug hätte aufmalen können. Und weil der Verlag so großzügig war, mir das und andere Materialien kostenlos zur Verfügung zu stellen, mache ich hier mal etwas Werbung für das Bildwörterbuch.
Gegenstände, die da nicht auf Anhieb zu finden waren, suchten wir über diese Seite hier, auf die mich eine Freundin aufmerksam machte. Die ist ähnlich wie das Buch (leider ohne Text-Suchfunktion), beinhaltet aber z.T. andere Wörter, und der große Vorteil, man kann's sich aufs Handy runterladen.
Bei der Gelegenheit erzählte mir mein Schüler in einer Mischung aus Deutsch, Englisch, Paschto und Händen und Füßen, dass sein Handy geklaut worden ist. So ärgerlich das für ihn ist - es bot uns einen Anlass zu echter Kommunikation. Endlich stellt sich bei mir das Gefühl ein, ich sitze echten Menschen gegenüber statt schlecht funktionierenden Schreibautomaten.
Nach der Schreib- und Malübung sollte ich noch ein paar Worte einfach so diktieren. Als uns der Pausengong unterbrach, blieb mein Schüler sitzen und meinte "another one, just one". Und schrieb ganz tapfer und mit viel Überlegen und Nachfragen und obwohl die Lehrerin reinschaute und uns rauswerfen wollte noch ein weiteres Wort. Ich muss immer noch breit grinsen, wenn ich dran denke. Lektion das Tages für mich: Motivierte Schüler wirken Wunder für die Motivation der Lehrerin.

Dummerweise habe ich dann die Lehrerin nicht mehr gefunden, um über Unterrichtsmaterialien zu sprechen. Also stecke ich meine neu gewonnene Motivation in die Tasche zu den bunten Büchern und Spielen und hoffe auf nächste Woche.

09 Januar 2016

Über Zivilisation

Eigentlich schreibe ich nicht so gern über Politisches. Meistens fühle ich mich zu uninformiert, um wirklich etwas Aussagekräftiges zustande zu bringen, was über mein Bauchgefühl-Urteil hinausgeht. Aber momentan geht es überall so emotional zu, und das zu einem Thema, das mich so persönlich betroffen macht, dass ich meine eigenen emotionalen Gedanken dazu aufschreiben möchte, schon um sie etwas zu sortieren. Und einen Aspekt zu erwähnen, der mir in der Diskussion bisher zu kurz zu kommen scheint.

Eine zivilisierte Gesellschaft muss sich daran messen lassen, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht. Dazu gehören zum Beispiel Flüchtlinge. Leider stellen offenbar auch Frauen eine schwächere Gruppe dar. Und nicht zuletzt gehören auch Verbrecher dazu, wenn sie denn dingfest gemacht werden und über sie Recht gesprochen wird.

Momentan haben wir die schöne Situation, dass zwei schwache Gruppen – Frauen und Flüchtlinge – gegeneinander ausgespielt werden. Und es eine gehörige Portion Reflexion und Selbstbeherrschung braucht, um sich nicht eindeutig auf eine Seite zu stellen. Eins ist sicherlich klar: Frauen sexuell zu belästigen, sie in ihrer körperlichen Unversehrtheit und ihrer Würde anzugreifen, um sie dann auszurauben, ist ein schweres Verbrechen. Oder? Wirklich? Ich überlege, was passieren würde (den Konjunktiv braucht’s hier eigentlich nicht), wenn deutsche Männer sowas machen würden. Für Raub gibt’s schon substanzielle Strafen, soweit ich informiert bin. Aber für den anderen Teil, den, über den sich gerade alle so empören?

Ich muss an den Nachbarn denken, der die 10jährige, auf die er aufpassen soll, zum Masturbieren missbraucht. Den 18jährigen, der die 12jährige, die sich heimlich auf die Party geschlichen hat, in ein Schlafzimmer drängt und vergewaltigt. Den Sporttrainer, der seine 16jährige Schülerin missbraucht. Den Tanzlehrer, der seine Kundin in ihrer eigenen Wohnung, wie es so schön heißt, „von Hand“ sexuell nötigt. An die vier Jungs in meiner Klasse, alle gerade im strafmündigen Alter, die mich über ein Jahr hinweg ständig massiv sexuell belästigt und gedemütigt haben. Und möchte die Reaktionen derjenigen, die für den Schutz der betroffenen Frauen und Mädchen verantwortlich gewesen wären (hier ist der Konjunktiv sehr angebracht), in Ausschnitten zitieren.

„Nichts von dem, was er getan hat, ist nachweisbar, d.h. vor Gericht ist er wahrscheinlich nicht zu belangen. Zeigen Sie ihn lieber nicht an, schließlich weiß er, wo Sie wohnen.“ (Die Polizei)

„Sag das bloß nicht deinen Eltern, sonst kriegen wir Ärger, weil wir uns rausgeschlichen haben.“ (Die beste Freundin, die die Eltern gut kannte.)

„Natürlich habe ich gesehen, was die mit dir gemacht haben. Schlimm.“ (Die Lehrerin, die es nicht für nötig hielt, irgendwie einzugreifen.)

„War’s denn wirklich so schlimm?“ (Die Eltern)

Klingt irgendwie anders als die öffentliche Empörung, die momentan herrscht, oder? Nur einer der Täter in den Fällen oben, die alle aus meinem engeren Freundeskreis stammen, war übrigens Ausländer. Keinem von ihnen ist irgendwas passiert. Der Nachbar ist irgendwann in einen anderen Ort weggezogen, vermutlich eher freiwillig als durch sozialen Druck. Der Tanzlehrer „unterrichtet“ fleißig weiter. Meine Klassenkameraden haben noch weitere fünf Jahre mit mir in einer Klasse verbracht, und ihr altes Spiel in dieser Zeit immer mal wieder aufgegriffen, wenn auch nicht so massiv. Die Eltern des vergewaltigten Kindes haben nie davon erfahren, und natürlich wurde der Täter nicht belangt. Was mit dem Sporttrainer passiert ist, weiß ich nicht mehr genau. (Insofern ist das „keinem“ von oben nicht ganz 100%ig sicher. Ist ja aber sowieso nur anecdotal evidence.)

Angesichts dieser, meiner persönlichen Faktenlage – meiner Normalität – fühle ich mich momentan schamlos verhöhnt von all denen, die auf einmal harte Strafen für etwas fordern, unter dem viele Frauen gewöhnlich still und leise und ungeschützt leiden dürfen. Die plötzlich verlangen, dass überkommene Männlichkeitsideale und Frauenfeindlichkeit einer fremden Kultur diskutiert werden, und bisher völlig blind – oder wie meine liebe, ach so feministische Deutschlehrerin sehenden Auges – alles ignoriert haben, was in unserer eigenen „Kultur“ so abläuft. Ja, wir dürfen hier ohne Schleier rausgehen und werden nicht gesteinigt, wenn wir die Frechheit besitzen, uns außerehelich vergewaltigen zu lassen. (Gerade letzteres kann man nicht genug wertschätzen.) Aber wer glaubt, dass es ausländischer „Werte“ bedarf, um Frauen zu Objekten zu machen, an denen sich einzelne Männer nach Belieben bedienen und ihre gefühlte Überlegenheit ausleben dürfen, ohne dass wir adäquate Mittel hätten, uns zu schützen und zu wehren … der darf nochmal nachdenken.

Wenn ich darüber nachdenke, wünsche ich all diesen Männern die Pest an den Hals. Oder Schlimmeres. Die Realität ist aber wohl, dass sie ihre Taten längst einfach vergessen haben. Oder fröhlich weitermachen. Oder ein ganz normales, unauffälliges Leben leben. Normalerweise verspüre ich den starken Wunsch, dass niemandem, egal wie anständig oder unanständig er/sie sich verhält, etwas wirklich Schlechtes zustößt – bei diesen Männern sagt mir mein Bauchgefühl das Gegenteil. Ich will ihnen so wehtun, wie sie mir und anderen wehgetan haben, oder vorzugsweise noch mehr.

Aber das ist ein kindlicher Wunsch, dessen Erfüllung zu nichts Gutem führen kann. Ich bin prinzipiell gegen die Todesstrafe und jede Form der körperlichen Bestrafung, und halte deren Abschaffung für einen Grundstein jeder zivilisierten Gesellschaft. Also kann ich nicht nur, weil ich mich persönlich betroffen fühle, meine Prinzipien über Bord werfen und eine derartige Bestrafung fordern.

Eigentlich darf ich nicht mal verlangen, dass die Täter strenger bestraft werden als all die oben beschriebenen Arschlöcher. Gleiches Recht für alle. Auch ein wichtiger Grundstein zivilisierten Zusammenlebens, an den ich glaube. In diesem Fall ist es nur leider gleiches Un-Recht, da Menschen für ihre eindeutigen Straftaten nicht belangt wurden.

Insofern wünsche ich den Tätern von Köln und aus den anderen Städten durchaus, dass sie härter bestraft werden, als das mit Sexualstraftätern hierzulande momentan üblich ist – wenn sich daraus ein Trend entwickelt und man in Zukunft alle Sexualstraftäter angemessen bestraft.

Aber was ist angemessen? Handelt es sich bei den Tätern um Flüchtlinge, fordern viele, dass diese abgeschoben werden. Dazu muss man sich aber zunächst anschauen, warum die Flüchtlinge hier sind. Es gibt sicher einige, die „nur“ nach Deutschland kommen, weil es hier bessere wirtschaftliche Perspektiven für sie gibt. Sehr viele sind aber hier, weil sie verfolgt oder bedroht werden. Wenn man diese abschiebt, verurteilt man sie also zur Rückkehr in eine existenzbedrohliche Situation, schlimmstenfalls zu körperlichen Verletzungen oder zum Tod. Nur weil wir es nicht persönlich sind, die diese „Strafe“ ausführen, sondern verbrecherische Regierungen, irre Terroristen oder Kriegsparteien in einem anderen Staat, heißt das nicht, dass wir durch die Abschiebung nicht dafür verantwortlich sind.

Und hier kommt die Zivilisation ins Spiel. Denn Strafe darf eben nicht gleich Rache sein. Erstere bietet eine gewisse (diskutierbare) Regulierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Letztere führt zu einem Teufelskreis aus Gewalt, der sich immer weiter hochschaukelt. Aus meiner persönlichen Erfahrung heraus kann ich nicht anders: Ich hasse und verabscheue die Täter. Die, die mir und meinen Freundinnen solche Dinge angetan haben ebenso wie die aus Köln und anderswo. Ich kann aber sehr wohl meinen Kopf einschalten, mir klar machen, was für Konsequenzen eine Abschiebung mit sich bringen kann – und entscheiden, dass ich das, egal, was der Mensch getan hat, auf keinen Fall verantworten will. Und selbst wenn ich das nicht könnte, so wie viele andere, Betroffene wie nicht direkt Betroffene es derzeit offenbar nicht können, dann ist es die Pflicht einer Gesellschaft, die sich zivilisiert nennen will, sicherzustellen, dass die angemessene Anwendung des Rechts nicht in primitive und vor allem selektive (=nur auf Flüchtlinge angewandte) Rache umschlägt.

Wenn wir nicht mit Arschlöchern leben wollen, dann sollten wir uns mal überlegen, wie wir unsere eigene Gesellschaft ändern, damit sie nicht mehr so viele davon produziert. Und ihnen, egal woher sie kommen, bessere Werte vorleben.