26 Oktober 2007

Positives

Bis jetzt hab ich ja in diesem Blog immer nur gejammert und gemeckert, seit ich hier in der Klinik bin. Das ist sicherlich größtenteils auf einen gruppendynamischen Prozess zurückzuführen, denn auf meiner Station ist Meckern ein Volkssport. Da mir das ziemlich auf die Nerven geht (*mecker*), will ich dem Einhalt gebieten, indem ich euch mal alles erzähle, was mir hier gut gefällt.
- Die Umgebung. Hier ist ziemlich viel Wald mit vielen Spazierwegen, ein Bach, ein paar Tümpel, sumpfige Wiesen und überhaupt ganz viel Natur, und bis jetzt ist das Wetter meistens sonnig, und wenn nicht dann doch wenigstens trocken. Hinter dem Haus gibt es einen versteckten Pfad, der zu einer idyllischen Holzbrücke führt, wo man wunderbar beinebaumelnd dem Wasser beim Fließen und den Mücken beim Tanzen (und manchmal den Golfern beim Abschlagen) zuschauen kann. Hab sogar schon eine Bisamratte getroffen. Allein in der Sonne durch die Natur spazieren ersetzt mindestens 1/4 meiner Medikamentendosis.
- Die Therapeuten. 90% sind sehr nett, trotz ausfallbedingter großer Arbeitsbelastung. Wenn man fragt, bekommt man in der Regel was man will, sei es Soziales Kompetenztraining oder Rückengymnastik.
- SKT. Zu Deutsch: Rollenspiel. Ich hatte bis jetzt zwei Sitzungen, und durfte schon viermal den Bösewicht (Chef/Mutter/ehrgeizige Ehefrau/Personalleiter) spielen. Ist nicht das gleiche wie zu Hause, aber es macht einen Heidenspaß, meine Rollenspiel-unerfahrenen Mitpatienten mit immer neuen Einfällen und Persönlichkeiten zu überraschen.
- Bewegungstherapie. Jawohl. Abgesehen von meinem Totalausfall nach dem Volleyballspielen ist der Sport wirklich mit das Aufschlussreichste, was ich hier mache. Man könnte vermuten, dass es an der gesteigerten Durchblutung des Gehirns liegt, aber da steckt noch mehr dahinter: ich komme jedesmal mit dem Gefühl raus, wieder etwas neues über mich erfahren zu haben. Sport macht nachdenklich.
- Expo-Situationen. Das ist überhaupt mein neues Lieblingswort: Exposition. Alles, was den Patienten aufgrund ihrer Krankheit schwer fällt, was die Therapeuten oder irgendwelche Situationen sie aber trotzdem zu tun veranlassen, wird hier so bezeichnet. (Z.B. wenn ein Mensch mit Waschzwang etwas schmutziges anfassen muss und sich hinterher nicht die Hände waschen darf.) Meine Lieblings-Expo-Situation der letzten Woche: in ein Autogeschäft gehen und dem Verkäufer mitzuteilen, dass ein Schmetterling in seinem Schaufenster sitzt und nicht raus kann, und dass ich möchte, dass er ihn befreit, und trotzdem kein Auto kaufen werde. Ich musste zweimal hingehen und sehr hartnäckig sein, aber der Schmetterling ist jetzt frei (oder wenigstens in Freiheit vor Kälte statt in Gefangenschaft vor Hunger gestorben).
- Meine Teekanne. Ohne die würde ich den Aufenthalt hier nicht überleben. Sehr hilfreich ist auch die Tatsache, dass es von 6h morgens bis halb 11h abends immer kochendes Wasser gibt, so viel man will.
- Blue Tack. Nur dadurch war ich in der Lage, meine Zimmerwände mit Fotos von euch, von unserer Hochzeit, unseren Katzen und allem möglichen anderen angenehmen zu tapezieren, ohne den Putz zu beschädigen.
- Tanzen. Es gibt nebenann eine Dorfdisko der schlimmsten Sorte. Dienstags legt dort ein DJ auf, der nicht ausschließlich Udo Jürgens spielt, und es so gelegentlich fertigbringt, dass ich meine Umgebung vergesse und einfach nur tanze.
- Am Wochenende nach Hamburg fahren und dort ganz normal verrückte Leute treffen.
- Halswirbelsäulengymnastik. Der Termin könnte blöder nicht sein: Samstags von 11 bis 12. Und ich freu mich drauf wie ein Schnitzel.
- Mit 'Krieg und Frieden' durch sein und noch über drei Wochen Zeit für die nächsten fünf Bücher haben.
- Internet. Trotz Abgeschiedenheit und ständiger Nabelschau immer noch mit euch allen kommunizieren zu können ist ungefähr das beste, was es gibt. :)
- Wochenende!!!!

Rache, reloaded

Danke erstmal für eure vielen spannenden, aufschlussreichen Kommentare. Brittas Geschichte fand ich interessant - fandest Du es befriedigend, nicht anzurufen? So, wie ich momentan drauf bin, hätte ich wahrscheinlich extra angerufen, um ihr unmissverständlich mitzuteilen, dass ich ihr nicht verzeihe.
Was mich aber am meisten beschäftigt hat, ist - wie so oft - der Kommentar von Markus. Du hast recht, wir alle haben jemandem etwas angetan, aus Unwissenheit, aus Liebe, aus gekränkter Eitelkeit, aus Versehen... Aber es gibt zwei Unterschiede zu denen, an denen ich mich gerne rächen würde. Erstens habe ich nie, und ich behaupte wirklich bewußt niemals jemanden absichtlich gequält, nur um mich besser zu fühlen. Und zweitens, wenn ich an etwas zurückdenke, was ich jemandem angetan habe, daran, dass ich ihn verletzt oder ihm geschadet habe, dann verursacht mir das ein schlechtes Gewissen. Ich leide darunter. Ehrlich. Es tut mir leid, und wenn ich könnte, würde ich das meiste (bis auf das wenige, was tatsächlich aus reiner Selbstverteidigung geschehen ist) zurücknehmen und ungeschehen machen. Oder meinen 'Opfern' wenigstens irgendwie Satisfaktion zu verschaffen, indem ich sie wissen lasse, dass es mir leid tut.
Und ich glaube zu wissen, dass das bei meinen Peinigern nicht der Fall ist, da sie sich nicht mehr daran erinnern. Das weiß ich aus einem Gespräch, das wir gegen Ende der Schulzeit mal geführt haben. Abgesehen davon, dass das nochmal eine extra Demütigung ist - was geschehen ist, hat für mich eine prägende, mein Leben verändernde Bedeutung, und für den Verursacher war es so völlig bedeutungslos, dass er es vergessen hat - ist das vielleicht auch eine Hauptquelle meines Rache-Bedürfnisses. Wenn ich mir eine Möglichkeit aussuchen dürfte, mich zu rächen, würde ich wahrscheinlich denjenigen, die mich gequält haben, einen ähnlichen Empathie-Fluch wie den Heuschrecken verpassen: dass sie erkennen, was sie getan haben, was das für Konsequenzen hatte, und nur eine Minute lang in ähnlichem Ausmaß leiden, wie ich darunter gelitten habe.
So, und weil jetzt gleich Wochenende ist und ich keine Lust zum ewig Rumleiden habe, kommt jetzt gleich ein Positiv-Eintrag. :-)

19 Oktober 2007

Ist Rache notwendig?

Wenn ich mit meiner Schreibwut so weiter mache, denkt ihr wahrscheinlich alle, ich dreh hier komplett ab. Aber Anke hat recht, hier wird so einiges losgetreten, und da von einem erwartet wird (schon wieder bin ich dabei, Erwartungen anderer zu erfüllen), dass man solche Sachen hier verarbeitet und nicht versteckt, ist es wahrscheinlich auch einfacher, vor allen Leuten loszuheulen.
Die Sport-"Verletzung" vom letzten Post war sehr wörtlich gemeint. Ich fühlte mich in die Schule zurückversetzt, wo ich durch meine Mitschüler auf gemeinste Weise verletzt wurde. Mich beim Ballspielen grundsätzlich als letzte in die Mannschaft zu wählen und dann rumzumaulen, wenn ich einen Fehler machte, war nur die mildeste Form davon. Die intensive Erinnerung daran, ausgelöst durch das Volleyballspiel, hat mir für den Tag dann wohl den Rest gegeben.
Und das bringt mich gleich zum Thema des Nachmittags-Posts. Vergangene Verletzungen.
Wider besseres Wissen hab ich gestern mit ein paar Mitpatienten im Kino "Die Fremde in Dir" angeschaut. (Ja, Bad Bramstedt hat ein Kino, und das ist 'ne Nummer für sich, beschreib ich aber wann anders mal.) Ich würde gerne viele Sätze aus diesem Film, der mir bis auf das Ende sehr gut gefallen hat, hier wortwörtlich abschreiben.
Wer gibt dir das Recht, anderen etwas anzutun?
Hast du jemals darüber nachgedacht, was für Konsequenzen dein Handeln für andere hat?
Haltet mich doch bitte auf!
Auf einmal ist eine Fremde da, sie hat deine Arme und Beine und dein Gesicht und deine Hände, und sie läuft damit herum, und von dir selbst ist nichts übrig...
Vielleicht errät man's aus den Zitaten, in diesem Film geht es um Rache.
Als halbwegs gut erzogener Zivilisationsmensch und Anhänger des Systems Rechtsstaat bin ich natürlich gegen Rache. Leute, die sich falsch verhalten, gehören bestraft, je nach Ausmaß des Fehlverhaltens durch das Gesetz oder durch minder schwere Sanktionen. Selbstjustiz geht gar nicht.
Oder?
Was ist mit den Verbrechen, die nicht bestraft werden? Mit denen, die verjährt sind? Oder mit solchen, die nach dem Gesetz nicht als Verbrechen zählen?
Stellt euch vor, es gäbe jemanden, der euch etwas angetan hat, etwas, das euer Leben nachhaltig beeinflusst, was euch tief verletzt und dauerhaft geschädigt hat. Und er ist damit davongekommen. Und stellt euch vor, ihr hättet die Möglichkeit, euch an ihm zu rächen.
Ich weiß ehrlich nicht, was ich tun würde. Ich glaube immer noch, dass ich niemanden körperlich verletzen könnte. Das hatte ich damals, als es nötig gewesen wäre, nicht drauf, und habe es auch heute noch nicht in mir. Aber alles andere: Demütigung, Beleidigung, öffentliche Diskreditierung, Diebstahl, Betrug - bei manchen Leuten kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass sie so etwas verdient hätten, und dass ich, wenn ich die Gelegenheit dazu hätte, es ihnen mit Freuden antun würde.
Würde es mir danach besser gehen? Ich würde das gern verneinen. Und wünschte gleichzeitig, ich könnte es mit einem von 'denen' ausprobieren.
P.S. Wider besseres Wissen habe ich das Thema 'Wie gehe ich mit Wut aus der Vergangenheit um?' heute in der Gruppe angesprochen. Man hat mir geraten, ich solle einen Brief schreiben. Ich fand das ein bisschen unbefriedigend, bis mir eingefallen ist, was man neben Text noch so alles in einen Brief packen kann: Juck- und Niespulver, Glasscherben, Anthrax, Bomben... Wer für letztere eine Anleitung hat, bitte hier posten, dann hab ich am Wochenende was zu tun. ;-)

Sport-Verletzung

Mann, der letzte Mitwoch war echt hart. Bin morgens schon irgendwie mit dem falschen Fuß aufgestanden, hab dem aber nicht viel Bedeutung beigemessen. Dann war Gruppentherapie, und ich dachte mir, ich könnt ja mal ein Problem vorstellen. Eins, das nicht wahnsinnig emotional besetzt ist, mein Leben aber schon irgendwie beeinträchtigt, und wo ich mir erhoffte, aus der Gruppendiskussion ein paar Tipps zu bekommen, wie ich gelassener damit umgehen kann. Ich war selbst überrascht, als ich schon beim Beschreiben des Problems, über das ich schon 100mal mit vielen Leuten gesprochen und geschimpft habe, mit den Tränen kämpfen musste. Als dann eine Mitpatientin schilderte, sie sei in der selben Situation, und dabei zu weinen anfing, gab's bei mir kein Halten mehr. Aber ok, ich bin nicht die erste, die in so einer Situation losheult. Wir teilten uns eine Packung Kleenex, ließen die Gruppe Lösungsvorschläge machen, fassten uns wieder, und gut.
Dachte ich.
Dann kam eine Stunde Einzeltherapie. Weil die Therapeutin mich ja noch nicht kennt, fragte sie mich über meine Kindheit und meinen Werdegang aus. Wir sprachen viel über die Schule, und schon wieder fiel es mir schwer, an mich zu halten. (Hab ja kein Problem, vor 'nem Therapeuten zu heulen, aber das Sprechen fällt dann so schwer, und dafür bin ich ja hier.)
An diesem Tag stand nur noch Sport an, also dachte ich, ich hätte das schlimmste überstanden. Ein bisschen Bewegung bringt mich auf andere Gedanken, ich kann mich abreagieren, und danach müde ins Bett fallen, und gut.
Dachte ich.
Und dann beschloss die Gruppe, Volleyball zu spielen.
Ich bin immer noch erstaunt, was das in mir auslöste. Volleyball habe ich seit der Schule nicht mehr gespielt. Ebensowenig wie alle anderen Mannschaftssportarten. Mit gutem Grund. Wir spielten eine halbe Stunde, und jedes Mal wenn der Ball auf meiner Seite des Netzes den Boden berührte, jedes Mal, wenn jemand lachte, oder schimpfte, oder jemanden anfeuerte, hätte ich mich am liebsten ganz klein zusammengerollt und irgendwo verkrochen. Die Sekunden vor dem Aufschlag der anderen Mannschaft, das Warten darauf, dass der Ball zu mir gespielt wird, und am schlimmsten, selbst dran zu sein mit Aufschlagen - unerträglich.
Am Schluss jeder Stunde gibt's ein sog. "Blitzlicht". Jeder beschreibt kurz, wie's ihm geht. Ich war als letzte dran - und brach zusammen. Den Rest des Tages war ich ein in Tränen aufgelöstes Nervenbündel.
Sport ist gesund für Körper und Seele.
Oder so.

14 Oktober 2007

Ein Tag im Leben der Tanja B.

Freitag, 12.10.07
Aufstehen um 7h. Ein Blick auf meinen Tagesplan sagt mir, dass ich nur eine halbe Stunde Zeit zum Frühstücken habe, vorher ist Blutabnahme angesagt, danach Visite. Also schnell unter die Dusche. Dann ab zur Medikamentenausgabe. Ich nenne meinen Namen und meine Station und fische die zwei Tabletten, die ich heute Abend nehmen muss, aus der Schachtel. Blöd, sie in der Hosentasche zu transportieren, hab neulich schon mal eine verloren, aber beim Blut abnehmen kann ich sie schlecht in der Hand behalten.
7:50
Ich komme 5 Minuten zu früh in die Medizinische Station, was mir nicht hilft, die Schlange geht fast bis vor die Tür - zwei Notfälle haben den Zeitplan durcheinander gebracht. Ich zähle die Patienten vor mir und rechne. Wenn ich noch Zeit zum Frühstück haben soll, dürfen die pro Patient nicht mehr als zwei Minuten brauchen.
Tatsächlich dauert es nicht so lange, es werden immer zwei Patienten parallel in ein Zimmer gebeten. Naja, weder meine Armbeuge noch die Farbe meines Blutes sind ein Geheimnis; wenn die andere Patientin hinschauen kann ohne umzufallen, soll sie.
8:15
Frühstück. Es gibt Brötchen, Marmelade, Wurst, Käse, Müsli. Wie jeden Tag. Manchmal, wenn wir brav waren/das Wetter danach ist/jemand eine großzügige Spende macht, kriegen wir auch ein Ei. Die Patienten meiner Station sitzen alle immer in der selben Ecke, das macht's mir leichter, alle 30 Gesichter hab ich mir noch nicht gemerkt. Geschweige denn die Namen. Hier spricht man sich grundsätzlich mit Du und Vornamen an (wie in Werbeagenturen!), nur die Ärzte fragen einen regelmäßig, ob man Herrn Maier oder Frau Müller gesehen habe.
8:35
Visite. Alle Ärzte und Therapeuten begrüßen jeden Morgen alle Patienten, machen Ankündigungen und sagen, wen sie noch gesondert sprechen wollen. Keine Ahnung, aus welchem Anlass solche Sondergespräche stattfinden, hatte noch keins. Überhaupt ist mein Wochenplan eher spärlich. Meine Mitpatienten sagen mir, dass sich das im Lauf der Zeit noch ändern wird. Was ich stark befürworten würde - die Langeweile hat einen der Therapie direkt entgegenwirkenden Effekt.
9:00
Begrüßung. Alle Neuzugänge der Woche dürfen sich dem Personal vorstellen. Vor mir ist unser Nesthäkchen dran, der meiner Meinung außer unter Depression noch unter ADS o.ä. leidet und wie ein junger Hund um Aufmerksamkeit bettelt. Er erzählt seine Geschichte wortreich aber stark gekürzt, unterstützt von den Fragen seiner Therapeutin, und ist einigermaßen zügig fertig. Der Oberarzt sieht auf die Uhr und merkt an, dass man nicht den ganzen Tag Zeit habe, das müsse straffer gehen. Das entspricht dem Bild, das ich durch Erzählungen anderer Patienten schon von ihm habe. Trotzdem verfalle ich wie immer in blinden Gehorsam, hole einmal tief Luft und dann nicht mehr, und erzähle meinen ganzen Depri-Werdegang in 4 Minuten. Nicht so der dritte Neuzugang, die selbst einen therapeutischen Hintergrund hat und ihn erstmal angiftet. Er sieht nicht aus, als hätte er's gemerkt, aber uns hat's gut getan. Ich frage mich, ob das das Konzept hinter dem ganzen Aufenthalt ist. Lernen am Modell anderer Patienten. Na hoffentlich such ich mir die richtigen Vorbilder aus.
10:00
Sport, Verzeihung, Bewegungstherapie. Unsere Gruppe ist bunt gemischt, alles von 25 bis 75 Jahren ist vertreten. Entsprechend ist das Bewegungsprogramm eher rücksichtsvoll gestaltet. Immerhin finde ich eine nette Partnerin, mit der ich eine halbe Stunde auf dem Pedalo durch die Halle wackele.
12:30
Mittagessen. Fisch. Mit der selben Soße, die's gestern zum Rindfleisch gab, nur mit mehr Dill. Die Soße gab's übrigens vorgestern auch zum Gemüse, und davor zum Schinkenbraten. Interessanterweise beschweren sich meine Mitpatienten über alles und jedes, von der Organisation der Klinik bis zur Nase der Therapeutin. Nur über das Essen nicht. Es ist ja nicht schlecht, ich komme wunderbar damit aus. Aber ist das Essen nicht immer das erste, worüber man meckert? Was die wohl zu hause so zu essen kriegen?
14:00
Gruppentherapiesitzung. Hier wird's endlich mal ein bisschen interessanter. Der Ablauf ist immer der selbe: ein paar Patienten stellen jeweils ein bestimmtes Problem vor, nennen das Ziel, das sie erreichen möchten, und dann diskutiert die Gruppe, wie man am besten da hinkommen kann. Einer erzählt von dem Verein, in dem er sich ehernamtlich engagiert. Die Frau des Vorstands hat hochtrabende Pläne, aber es gibt niemanden, der sie umsetzen kann, also bleibt alles an ihm hängen. Das klassische Muster: jemand, der über andere verfügen kann, hat eine tolle Idee, und kümmert sich keinen Deut drum, ob und wie die realisierbar ist. Hauptsache, er steht hinterher gut da und ist der Held. Dass jemand anders dafür seine Freizeit opfern und sogar Urlaub nehmen muss, um diese überzogenen Vorstellungen zu erfüllen, ist isch schnurzegal. Ich gehe stinkwütend aus der Sitzung.
ab 15:40
Freizeit. Ich mache einen Spaziergang. Den 15. in dieser Woche. Ich bin hier so viel draußen wie im ganzen letzten halben Jahr nicht. Fluchtverhalten? Vor der Langeweile, und auch vor meinen Mitpatienten. Ich dachte, es würde mir gut tun, viele Leute mit dem gleichen Problem zu treffen. Aber hier sind einige Leute, die mir sowas von auf die Nerven gehen, nicht weil sie leiden, sondern wegen ihrer nervigen, aufdringlichen, und - ich kann's nicht anders sagen - primitiven Art, dass ich einfach raus muss. Direkt hinter dem Haus beginnt der Wald mit schönen Wanderwegen, jeder Menge Eichenlaub und Brombeerranken, und unzähligen Pilzen. Ich erkunde täglich mehr von der Umgebung und genieße das Alleinsein ganz anders als in Hamburg. Unter Bäumen sein tut gut.
17:00
Aus reiner Langeweile beschließe ich, meine Wäsche zu waschen. Leider ist das nicht besonders arbeitsintensiv. Ich habe bewußt auf einen Fernseher auf dem Zimmer verzichtet, und bin trotz allem immer noch froh darüber. Vielleicht schaffe ich ja so Krieg und Frieden, unser aktuelles Literaturclub-Buch, doch etwas schneller als gedacht. Morgen werde ich mir aus Hamburg noch ein paar Bücher holen, und irgendwas zum Basteln. Außerdem jede Menge farbige Sachen, um mein über die Maßen türkises Zimmer etwas abzumildern.
18:00
Ebenfalls aus reiner Langeweile setze ich mich in die Sofaecke. Dort findet das eigentliche Leben auf der Station statt. Es gibt eine Kaffeemaschine und Teewasser, immer, wiederhole immer Süßigkeiten und Knabbersachen, dort tagt Mittwochs das Patientenparlament und findet jeden Morgen die Visite statt, hier lagern die Gesellschaftsspiele und hängen die neuesten Infos aus.
Sprich: man kommt an der Sofaecke nicht vorbei. Heute habe ich Glück, einige der lautesten Mitpatienten sind nicht da. Man hat Gelegenheit, sich in kleineren Grüppchen kennenzulernen und auch mal über was anderes zu reden als all die Fehler, die Klinikleitung, Therapeuten und die Welt im allgemeinen verbricht, und welche Beschwerdebriefe demnächst wohin geschrieben werden. So ist das richtig gemütlich.
22:30
Der Mann, der auf seinem Handy immer die neuesten Internet-Witze zu haben glaubt, betritt den Raum. Bevor er uns allen zum fünften Mal die lustige Air Berlin Durchsage vorspielt, flüchte ich ins Bett.
23:00
Freitag Abend, und ich bin um diese Zeit hundemüde! Vielleicht liegt das an der vielen frischen Luft, oder an der fremden Umgebung, oder aber daran, dass die Schrift in meinem Buch furchtbar klein gedruckt ist. Immerhin habe ich mich an das Bett einigermaßen gewöhnt und kann durchschlafen, auch wenn das Kopfkissen meinem Rücken nicht besonders gut geht. Auch das wird sich ab morgen ändern, wenn ich mir ein zusätzliches Kissen aus HH mitbringe. Morgen früh holt mich Leo ab, und ich entgehe einen Tag lang der Notwendigkeit, darüber nachzudenken, was ich denn als nächstes tun könnte, um die Zeit totzuschlagen.
Über Nacht wegbleiben geht nicht - ich kann mich nach 4 Wochen Aufenthalt für eine Nacht beurlauben lassen, aber auch da brauche ich eine besondere Begründung. Naja, vielleicht ist es gar nicht schlecht, nicht jedes Wochenende heimzufahren und sich gleich wieder privatem Termindruck auszusetzen. Trotzdem 6 Wochen ohne eine einzige Nacht mit Leo zu kuscheln wird hart...
Das ist so ein einigermaßen typischer Tag. Bringt mir das was? Ich glaube schon. Die Gruppensitzungen sind manchmal richtige Augenöffner, und auch der Kontakt mit den Mitpatienten ist trotz aller Unterschiede schon hilfreich. Und die Qualität der Langeweile ist eine andere als zu Hause. Sprich: ich muss tatsächlich drüber nachdenken, wie ich mich beschäftige. (Internet ist vorhanden, aber teuer ;-)) Und ich hab jetzt schon jede Menge Sachen im Kopf, die ich unbedingt aufschreiben muss...
P.S. Ich nehme das mit den Emails zurück: kann täglich mein Postfach abrufen, also dürft ihr mir gerne schreiben.

10 Oktober 2007

Nachricht aus dem Exil

Türkis. Alles hier ist türkis. Die Rezeption, die Säulen in der Eingangshalle. Die Fensterrahmen und die Stühle in der Cafeteria. Die Sofas und die Lampen im Aufenthaltsraum. Die Teppiche, alle Teppiche sind türkis! Das Bett, der Kleiderschrank, der Schreibtisch, die Rahmen der ebenfalls türkisen Bilder an den Wänden. Alles. Das soll bestimmt irgendwie beruhigend wirken. Ich fühl mich auch schon ganz ruhig. Gaaaaanz ruhig.
Gut. Tief durchatmen. Irgendwann werde ich mich an diese Un-Farbe gewöhnen.
Ob ich mich an den Rest auch gewöhne?
Ich fang mal mit den einfachen Sachen an. Das Essen ist ok, es gibt mittags warm, abends kalt mit Früchtetee wie in der Jugendherberge, und Müsli zum Frühstück bekommt man auch.
Meine persönliche Therapeutin scheint nett, auch wenn sie ca. 20 Jahre jünger als ich ist, aber wer weiß, frisch von der Uni ist ja vielleicht gar nicht mal schlecht.
Meine Mitpatienten sind ein kurioses Sammelsurium an Burnout-Depris, manche sehr ruhig und zurückhaltend, andere hyperaktiv mit starkem Perfektionismus (sprich: die beschweren sich dauernd über alles), einige offenbar wirklich schwer geschädigt, ein paar eher so wie ich mich fühle: aus dem Gröbsten schon raus.
Man kommt sich ein bisschen vor wie auf einer Pauschal-Gruppenreise. Alle Leute haben irgendwie ähnliche Interessen und das gleiche Ziel, aber von selbst würde man nie auf die Idee kommen, ausgerechnet mit diesen Leuten wegzufahren. Wobei Gruppenzusammenhalt und Gruppentherapie hier großgeschrieben wird, sprich man macht fast alles zusammen.
Wenn einem das auf die Nerven geht, kann man sich natürlich auch immer in die Privatsphäre seines eigenen Zimmers zurückziehen. Vorausgesetzt, man mag türkis.

08 Oktober 2007

Ich packe meinen Koffer...

...und tue (im Vollbewußtsein, dass diese Verbform nicht existier) hinein: Kleidung für 6 Wochen.
Heute gegen 14:30 kam der Anruf von der Klinik, dass ich morgen bis 11h anreisen soll. Wäsche könnte ich dort waschen - so plötzliche Anreisen passieren denen wohl öfters. Tja, seither packe ich, erledige noch schnell liegengebliebenen Verwaltungskram, sage Termine ab, instruiere Leo (im Kühlschrank ist noch Suppengemüse, und bitte denk dran, diesen Brief für mich abzuschicken...), und widme mich ganz allgemein der Aufgabe, mal eben für sechs Wochen mein gegenwärtiges Leben zu verlassen und es woanders weiterzuführen.
Und frage mich nebenbei, was mir da wohl bevorsteht. Eigentlich geht's mir ja in letzter Zeit ganz gut, vor allem nach der Hochzeit hatte ich ein richtiges Hoch. Aber dann hat sich der Alltag wieder eingeschlichen, es gab nichts mehr dringendes zu tun, und ich habe auch noch beschlossen, dass es mir so gut geht, dass ich meine Medikamente wenigstens mal um ein Viertel reduzieren kann (natürlich in Absprache mit dem Arzt). Und irgendwie war das wohl eine ungünstiges Zusammenstellung, jedenfalls fühle ich mich seit einiger Zeit gar nicht mehr so toll. Und bin heilfroh, aus dem Trott rauszukommen. Andererseits hab ich es eigentlich schon eine ganze Weile gründlich satt, ständig über mich selber nachzudenken, alles was ich tue (schon wieder falsch), sage und denke, zu analysieren und auf den Zusammenhang mit meiner Depression und furchtbar traumatische Kindheitserlebnisse (von denen ich nicht grade viele hatte) zu überprüfen. Und das kommt jetzt wohl nochmal in geballter Form.
Naja. Vielleicht wird das so eine Art Ende mit Schrecken für die Depression. Oder noch viel besser: eins ohne. :)
Ich habe keine Ahnung, wie erreichbar ich dort sein werde, und ob die mich am Wochenende rauslassen. Ich nehme mein Handy mit, weiß aber nicht, ob ich das da benutzen darf, immerhin ist es ja so 'ne Art Krankenhaus. Sollte ich telefonisch erreichbar sein, werde ich Leo die Nummer hinterlassen, und wenn das nicht geht, versuche ich, auf einem der beaufsichtigten Spaziergänge eine Nachricht unter einem Stein... Äh, sorry, falsche Realitätsebene.
Emails werde ich sicher nicht lesen, vielleicht könnt ihr dran denken und mir nicht allzu viele schreiben, damit mein Posteingang nicht überläuft.
Und sollte mich jemand besuchen wollen, warte ich jede Nacht zwischen 12 und 1 Uhr an der Stelle, wo der Stacheldrahtzaun durchgeschnitten ist... ähm, 'tschuldigung, schon wieder verrutscht. Ich meinte natürlich, im Bedarfsfall einfach Leo kontaktieren.
Dieser Blog wird dann wohl auch eine Weile brachliegen. Oh Mann, was soll ich bloß ohne euch anfangen. Hm, vielleicht kann ich mich ja gelegentlich, wenn die Aufseher Mittagspause haben, heimlich in den Serverraum schleichen und...
Ok, zum Schluss nochmal ernst: Ich werd euch vermissen!

05 Oktober 2007

Those whole girls

Wieder mal ein Songtext, diesmal von Suzanne Vega, einem Idol meiner Teenagerzeit.
An dieses Lied musste ich unwillkürlich denken, als ich neulich mit ein paar Mädels zusammensaß. Wir redeten über verflossene Beziehungen, und ein paar davon waren geprägt von Missbrauch, körperlich wie emotional. Das an sich ist nicht weiter überraschend für mich, schließlich gehöre ich selbst zu der langen Liste der Frauen, die sich schon alles mögliche haben antun lassen. Was mich erstaunt hat war aber die Reaktion einiger anderer Frauen auf diese Erzählungen. "Echt? Das gibt's doch nicht. Warum bist du nicht einfach gegangen? Wieso hast du den Deppen nicht einfach zum Teufel geschickt?"
Bedeutet diese Reaktion, dass es tatsächlich Leute in unserem Alter gibt, die sich noch niemals aus Liebe gedemütigt haben? Noch nie mit jemandem geschlafen haben, obwohl sie es gar nicht wollten, noch nie, aus wie auch immer fehlgeleiteter Liebe oder dem Wunsch geliebt zu werden, Dinge hingenommen haben, die nicht hinnehmbar sind? Natürlich muss es die geben, wäre ja schlimm, wenn das die Regel und nicht die Ausnahme wäre. Trotzdem. Ich zweifle.
Vielleicht ist die Welt tatsächlich zweigeteilt. Vielleicht gibt es zum einen die Menschen, die akzeptieren, was immer ihnen gegeben wird, ob es Liebe in Form von Zärtlichkeit oder Schlägen ist, ob es ein zu niedriges Gehalt oder eine unangemessene Position oder auch nur ein Haar in der Suppe ist, über das sie gelassen-großzügig-zu-feige-sich-zu-beschweren hinwegsehen.
Und zum anderen die, die wissen was sie wollen, die das auch artikulieren können, und die überzeugt sind, dass kein anderer Wille über ihrem eigenen steht.
Seid ihr whole girls, ihr heilen Mädchen, wirklich so frei?
Oder hattet ihr nur bisher in eurem Leben das unglaubliche Glück, dass der Wille anderer, dem ihr euch aus Liebe, aus eingebildeter oder echter Abhängigkeit, aus welchem Grund auch immer unterordnet, zufällig in akzeptabler Weise mit eurem eigenen übereinstimmt?

02 Oktober 2007

And all that Jazz!

So, zurück von drei Tagen jenseits der Realität, aber bin ich wirklich schon wieder im Hier und Jetzt angekommen? Ich ertappe mich immer noch dabei, wie ich Lieder aus der Dreigroschenoper summe und geistesabwesend nach meiner Zigarettenspitze taste...
Ok, von vorne: letztes Wochenende waren wir auf einem Rollenspiel. Setting 20er Jahre, Location ein komplett mit Antiquitäten aus der Zeit eingerichtetes Wasserschloss in der Nähe von Coburg, Mitspieler allesamt genial, und der Plot und die Aufbauten und Props und Utensilien einfach unbeschreiblich gruselig, stimmungsvoll und realistisch (soweit man das z.B. von 1,20m langen Kakerlaken sagen kann).
Für mich persönlich war aber nicht nur die Handlung gruselig, sondern auch die Tatsache, dass ich wahnsinnig genug war, eine Rolle als Sängerin zu spielen. Sprich, ich musste tatsächlich singen, vor Leuten. Sowas hab ich schon eine ganze Weile nicht mehr gemacht, und war mir gar nicht sicher, ob ich's noch kann (falls ich's je konnte). Umso froher war ich, dass Christine den selben Gedanken hatte, und wir im Duett singen konnte. Das gab nicht nur Mut, sondern wir konnten auch noch zusammen üben - übers Telefon, mit 800 km zwischen uns. Hat aber gut geklappt und viel Spaß gemacht, jedenfalls mir und Christine, ob unsere Männer, die das mitanhören mußten, so begeistert waren, bin ich mir nicht sicher.
Der Auftritt war jedenfalls ein voller Erfolg, zumal es mir gelungen ist, durch einen unfreiwilligen Striptease (mein Unterkleid ist ungefähr 3m zu weit hochgerutscht, und der Stoff darüber war sehr durchsichtig) die Aufmerksamkeit von meiner Stimme abzulenken. Trotzdem bin ich ein bisschen stolz auf mich, und erst recht auf Christine, die weniger Bühnenerfahrung hat als ich, aber allen Widrigkeiten zum Trotz unbeirrt weiter gesungen hat, selbst als ich meinen Einsatz verpasst habe. Kompliment, nicht jeder Profi kriegt sowas hin!
Was das Rollenspiel aber neben all diesen Sachen zu einem absoluten unvergesslichen Highlight gemacht hat, war die Dynamik zwischen den Spielern. Da gab es Dialoge, die jedem Drehbuchschreiber alle Ehre gemacht hätten, und nichts davon war geplant. Danke an euch alle! Zum Abschluss muss ich einfach eine Kostprobe zum Besten geben:
Lili, mein Charakter, hat den Verdacht, dass Antoine, der treu ergebene Butler ihres Mannes, der ihnen beiden jeden Wunsch von den Augen abliest, in sie verliebt ist. Er verhält sich komisch, macht gelegentlich Andeutungen... Sie beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen, und macht einen Spaziergang zum See. Er läuft ihr mit einem Regenschirm hinterher, man kann ja nicht zulassen, dass Madame nass wird.
Lili bleibt am Ufer stehen, blickt über den See hinaus.
"Antoine. Wir müssen reden." Sie wendet sich ruckartig zu ihm um und sieht ihm tief in die Augen. "Liebst du mich?"
Es dauert eine Weile, bis sich die Spieler wieder vom Boden aufgeklaubt und ihr Lachen unter Kontrolle gebracht haben. Schließlich, als sie wieder sprechen können:
"Natürlich liebe ich Sie, Madame. So wie ein Diener seine Herrschaften eben von ganzem Herzen liebt." Antoine macht eine Pause. Dann fährt er fort, von Pflichtbewußtsein erfüllt: "Soll ich Sie mehr lieben? Ich könnte es einrichten, wenn Sie es wünschen...."















Zum Schluß noch ein dickes Dankeschön an meinen Bruder, der innerhalb von Rekordzeit ein grandioses Playback für unseren Auftritt aufgenommen hat - ohne Dich hätt's nicht funktioniert!