05 Juli 2016

Not about me

Der Ramadan liegt in den letzten Zügen. Oder vielmehr die Fastenden, habe ich das Gefühl. Meine Kids sind müde, erschöpft und seltsam aufgekratzt. Der Lärmpegel in der Klasse ist deutlich höher, die Konzentration lässt zu wünschen übrig. Manche haben das Fasten tatsächlich abgebrochen – geht Assimilierung so schnell? Oder sind sie wie ich zu dem Schluss gekommen, dass sie noch als Reisende zählen und deshalb nicht am Fasten teilnehmen müssen? Die anderen halten tapfer durch, schlafen nachts kaum, weil sie ja nicht nur essen müssen, sondern dann auch noch die Küche in der Unterkunft aufräumen und putzen, abends ebenso wie morgens vor der Schule. Da bleibt nicht viel Energie für Perfekt und Präpositionen übrig.

Nur heute noch, denke ich mir, als ich am Montag vor der Klassenzimmertür stehe. Und überlege, was ich mit der Tüte voller Süßigkeiten mache, die ich mitgebracht habe. Am Wochenende war Festumzug hier im Ort, und meine Kinder haben den besten Platz zum Süßkram einsammeln erwischt. Natürlich haben sie sich alles gegriffen, was sie kriegen konnten, auch Sachen, die sie gar nicht mögen. (Ja, es gibt Süßigkeiten, die meine Kinder nicht mögen.) Die und ein paar wenige andere haben sie dann aussortiert, um sie an die Flüchtlinge weiterzugeben. Echte Großzügigkeit wäre es natürlich, auch von den Sachen was abzugeben, die man mag. Aber irgendwie will ich sie dazu nicht zwingen, denn was bringt schon erzwungene Großzügigkeit, außer das Gefühl, dass man Teilen nicht mag? Zumal ich sie ja schlecht in die Schule mitnehmen kann, damit sie den Lohn für ihr Teilen – die Freude der anderen Kinder – miterleben können. Das ist glaube ich für den Lerneffekt immens wichtig.

Für mich hingegen darf es eigentlich nicht wichtig sein. Klar, das Helfen ist befriedigend, ich fühle mich besser, wenn ich am Montag vom Unterricht heimkomme, ich schreibe Blogeinträge, damit alle wissen, was für ein toller Mensch ich doch bin. ;) Aber in der Schule geht es nur um die Kinder. Ich habe mich mittlerweile an den Gedanken gewöhnt, dass ich ihnen nicht annähernd so viel helfen kann, wie ich es eigentlich für wichtig und nötig hielte – sonst hätte ich mittlerweile mindestens 8 – 12 von ihnen adoptiert. Und dass ich selten den ‚Lohn‘ meiner Arbeit zu sehen bekomme. Ich bin eben nur einmal die Woche da, das reicht für etwas Grammatik, aber nicht, um einen substanziellen Unterschied in jemandes Leben zu machen. Ich gehe hin, gebe zwei Stunden lang, was ich zu geben habe, und hoffe einfach, dass es für die Kinder alles ein kleines bisschen besser macht. Und muss mit der Tatsache leben, dass ich viele schon im nächsten Schuljahr nicht mehr wiedersehen werde. Einige sind in andere Unterkünfte verlegt worden, andere schließen die Schule ab.

Etwas kriege ich aber doch zurück. Seit ich meine Schüler habe, hat sich mein eigenes Verhalten verändert. Wenn ich auf der Straße jemandem begegne, der ‚anders‘ aussieht – dunkelhäutig, fremdländisch, mit Kopftuch … - schaue ich ihn/sie direkt an und lächle freundlich. Früher habe ich das nicht getan. Auch wenn ich mich nicht wirklich für rassistisch halte, schwang doch bisher immer die Angst mit, durch zu offen zur Schau getragene Freundlichkeit zu irgendwas einzuladen. Möglicherweise eine Altlast aus meiner Schulzeit, oder aber einfach Zeichen meiner nach jahrelanger harter Arbeit immer noch nicht ganz überwundenen Schüchternheit … und der grundlegenden Furcht vor dem Fremden, die jeder Mensch mehr oder weniger stark in sich trägt. Die ist jetzt völlig verpufft. Das hat nur ein paar Wochen gedauert. Ich wünschte, viel mehr Menschen hätten die Gelegenheit zu so einer Erfahrung ...

Also habe ich trotz aller Flüchtigkeit meiner Bemühungen doch sehr viel gewonnen. In mittlerweile guter alter Tradition muss ich hierzu wieder mal ein Literaturzitat bemühen, diesmal sogar eines meiner liebsten überhaupt (hätte gerne, dass das mal auf meinem Grabstein steht): „Ich habe die Farbe des Weizens gewonnen.“ Dieser Satz (zugegebenermaßen ohne Kontext nicht zu verstehen, also ruhig das ganze verlinkte Kapitel lesen) drückt eigentlich alles aus, was man sich vom Leben erwarten kann.

Und so verstecke ich die Süßigkeitentüte hinter meinem Rücken, als ich das Klassenzimmer betrete, und drücke sie in der Pause der Klassenlehrerin in die Hand, damit sie sie den Kindern nach Ende des Ramadans weitergibt. Ich werde die Freude der Kinder nicht zu sehen bekommen. Aber ich bin sicher, dass sie sich freuen werden. Das reicht.

09 Juni 2016

Amatus sum. Amatus es. Amatus est.

Irgendwie sind meine Überschriften in letzter Zeit häufig fremdsprachig. Aber keine Angst, ich fange jetzt nicht an, auf Latein zu schreiben. Ich zitiere nur einen Film, der mir in der letzten Unterrichtsstunde in den Sinn kam, als wir Übungen zum Futur I machten.

Eigentlich war ich überzeugt, im Film wäre das Verb auch im Futur – I und II – konjugiert worden, so dass die Bedeutung „Ich liebe, ich werde lieben, ich werde geliebt haben“ dabei rauskommt (und letzteres traurigerweise impliziert, dass die Liebe irgendwann endet). Aber diese falsche Erinnerung ist leicht zu entschuldigen, denn der Film, Das Reich der Sonne, ist so alt, das der Hauptdarsteller Christian Bale damals 13 Jahre alt war. Ja, ich hab den im Kino gesehen. 1987. Themawechsel!

In Wirklichkeit sagt Jim, der in einem japanischen Kriegsgefangenenlager internierte Junge, im Film also „Ich werde geliebt, du wirst geliebt, er wird geliebt.“ Sein britischer Mentor im Lager bringt ihm ausgerechnet Latein bei. Ganz sicher das Wichtigste, was ein Kind in so einer Situation lernen kann.

Genauso komme ich mir auch oft vor, wenn ich mit meinen Schülern, die z.T. gerade mal drei, vier Monate hier sind, scheinbar sinnlose Vokabeln übe oder mich mit ihnen an grammatikalischen Details festbeiße, für die jeder vernünftige Mensch die deutsche Sprache zum Teufel wünschen muss, und die zur Verständigung keineswegs unabdingbar sind.

Aber genau wie der Unterricht im Film ist der reale Unterricht etwas, auf das die Schüler sich konzentrieren und woran sie sich festhalten können. Wenn die aus meiner subjektiven Sicht völlig regelfreie Partizipbildung im Deutschen nervig genug ist, um kurzzeitig von Einsamkeit, Heimweh und Traumata abzulenken, dann ist sie vielleicht gar nicht mal so verfluchenswert.

Also nehmen wir zehn Beispielsätze und setzen das Verb ins Futur. „Ich werde Gitarre spielen lernen.“ „Ich werde auf den Berg steigen.“ „Ich werde bei Freunden übernachten.“ Dann sollen die Schüler beschreiben, was sie in den Sommerferien machen werden, und was in fünf Jahren. Viele sind ob der Langfristigkeit der Frage ratlos. (War ich in Bewerbungsgesprächen auch immer.) Manche schreiben Berufswünsche auf, andere Reiseziele. Einer aber schreibt über seine Sommerferienpläne: „Ich werde weinen. Ich werde traurig.“ Und in fünf Jahren: „Ich werde einen guten Freund haben.“

Er ist ein lieber, sanftmütiger Junge, der gern lacht und an alle Kekse verteilt, und sich leicht von den typischen Teenager-Hänseleien der anderen kränken lässt. Ein Junge, wie es ihn wahrscheinlich in jeder Klasse jeder Schule überall gibt, mit ganz normalen Sorgen und Problemen.

Aber zu wem kann er damit gehen? Seine Eltern sind, wie die der meisten Schüler, „nicht da“, mein Lieblingseuphemismus. Können ein Heimbetreuer, ein Lehrer, ein Haufen aus aller Herren Länder zusammengewürfelter Klassenkameraden und Mitbewohner auch nur annähernd genug Stabilität bieten, damit man die Pubertät übersteht, geschweige denn mit dem fertig wird, was man während und vor der Flucht durchmachen musste?

Oder, in (hoffentlich korrektem) Latein gefragt: Amati sunt? Wer liebt diese Kinder eigentlich?

25 April 2016

Starved for Stories


Am Wochenende war Tag des Buches. (Für mich persönlich war eher Tag der Schwerkraft mit unliebsamen Folgen, aber wenigstens sind keine Bücher runtergefallen, und alle Familienmitglieder haben sich mittlerweile halbwegs von diversen Stürzen erholt.) Jedenfalls hat unsere örtliche Buchhandlung das zum Anlass genommen, die Kinder der Ü-Klasse einzuladen und ihnen ein Buch zu schenken. Netterweise am Montag, wo ich sowieso immer in die Schule komme, drum durfte ich mit.

Wenn man sich jetzt einen Haufen 16- bis 18jähriger Hauptschüler (nichts anderes sind Schüler der Mittelschule ja) in einer kleinen Buchhandlung vorstellt, erwartet man ein bisschen sowas wie eine Gruppe Grillfans im Veganerladen. Milde Langeweile bis aktives Desinteresse, noch verstärkt durch die Tatsache, dass alle Bücher in einer den Schülern fremden Sprache, also noch weniger zugänglich sind. So das Vorurteil. Doch weit gefehlt. Die Kids fielen geradezu über die Bücher her. Alles von Kochbüchern über Sportbücher bis zu Liebesromanen schien sie zu interessieren. Sogar diverse Kinderbücher wurden aufmerksamst studiert, während die Buchhändlerin erklärte, wo die kleinen Bücher eigentlich herkommen. „Zuerst denkt ein Mensch“, beschrieb einer der Jungs auf ihre Frage hin den Ursprung eines Buches. Zwar gibt es genug Werke, die beweisen, dass man sich das mit dem Denken auch sparen kann, aber prinzipiell finde ich es toll, dass er zuerst an den Autoren gedacht hat, und nicht (wie ich Banausin) an Papierherstellung oder Buchbinderei.

Zum Schluss gab’s ein Geschenk für alle. Einige wirkten fast enttäuscht, dass sie sich nicht selbst eines aussuchen durften. Und tatsächlich wirkte die Geschichte des 11jährigen deutschen Beinahe-Teenies, dessen größtes Problem es war, dass er den ganzen Sommerurlaub mit seinen Eltern in Amerika verbringen musste, und das auch noch an einem Ort ohne Internet, auf mich nicht gerade wie Stoff, mit dem sich meine Flüchtlingskinder identifizieren können würden.

Aber schon wieder lag ich falsch. In der anschließenden Stunde begannen wir das Buch gemeinsam zu lesen. Und Mann, haben die sich da reingestürzt. Selbst die, die noch wirklich wenig Deutsch können, kämpften sich tapfer Absatz für Absatz weiter. Wenn derjenige, der mit Vorlesen dran war, ins Stocken geriet, halfen drei oder vier andere aus. Bei manchen konnte man sehen, wie sie selbständig weiterlasen, obwohl wir noch nicht so weit waren. Nachdem ich die Stunde bereits um 10 Minuten überzogen hatte, konnte ich eins der Mädchen nur dazu bewegen, zurück ins Klassenzimmer zu gehen, indem ich noch schnell einen weiteren Absatz mit ihr las.

Und ist am Anfang des Buches nicht mal irgendwas Spannendes passiert. Was zweierlei beweist. Erstens: Selbst nach einem halben Jahr mit meinen Flüchtlingen stecke ich voller Vorurteile. Die ich wohl besser immer wieder bewusst überprüfen sollte. Und zweitens: Der Mensch braucht Geschichten. Vielleicht nicht so dringend wie Nahrung oder Luft zum Atmen oder Sicherheit. Aber fast.

Und ich freu mich tierisch aufs Weiterlesen mit den Kids.

18 Februar 2016

Seesterne werfen

Diese Woche hatte das Helfen ein bisschen was von der Dramatik, die man sich von Ferne vielleicht vorstellt. Wie ihr ja hier schon lesen konntet, verläuft mein bisschen Unterricht bisher eher unspektakulär. Mit den Kindern über ihre persönlichen Schicksale zu sprechen, ist uns untersagt, alle für unbegleitete Minderjährige kritischen Themen wie Familie sollen wir tunlichst vermeiden. Und ohnehin ist die Kommunikation nicht leicht, weil ich meistens die kriege, die die meiste Unterstützung brauchen, sprich noch nicht wirklich kommunizieren können.

Aber Tränen sind eine universelle Sprache. Völlig unvermittelt begann eine meiner Somalierinnen zu weinen, als wir gerade das Adjektiv „klug“ steigerten. Ich denke nicht, dass das der Auslöser war. Allerdings könnte ich es nicht genau sagen, denn siehe oben: Unter normalen Umständen können wir uns über halbwegs konkrete Dinge mit viel Händen und Füßen einigermaßen verständigen. Unter Tränen und emotionalem Stress über so abstrakte Dinge wie Gefühle und Ängste? Nahezu unmöglich. Immerhin war ihre Landsmännin (Landsfrau?), die zukünftige Krankenschwester, anwesend und dolmetschte ein wenig. Der Betreuer in ihrer Unterkunft ist „nicht gut“. Was immer das heißen mag. „Mama und Papa sind nicht hier.“ Immer wieder deutete sie auf ihren Kopf, dort liege das Problem. Verständlich, dass sie nach allem, was sie erlebt haben muss, psychische Probleme hat. Aber finde mal einen auf traumatisierte Jugendliche spezialisierten Psychiater, der kurzfristig einen Termin frei hat – und Somali spricht!

Die Vorstellung, es endlich in ein sicheres Land zu schaffen, und dann in einer Blase der Einsamkeit gefangen zu sein, mangels Sprachkenntnis dazu verurteilt, über das zu schweigen, was einen innerlich auffrisst, ist kommt meiner Idee einer kafkaesken Hölle schon ziemlich nahe.

Was also tun? Weiter Adjektive steigern kommt erstmal nicht in Frage. Ich würde das Mädchen gern in den Arm nehmen, aber ich bin mir nicht sicher, inwieweit Körperlichkeiten für sie (kulturell und anderweitig) akzeptabel sind, also lege ich ihr nur tröstend die Hand auf den Arm und versuche, meine eigenen Tränen herunterzuschlucken. Sage ihr, dass ich gern helfen möchte, aber nicht weiß, wie. Ihre Mitschülerin erklärt, dass sie nachts im Dunkeln Angst hat – wobei ihr Gesichtsausdruck, mit dem sie Angst pantomimisch darstellt, eigentlich nur mit „nackter Terror“ beschrieben werden kann – aber kein Licht anmachen darf, weil die anderen sonst nicht schlafen können. Ich verspreche, ihr das nächste Mal eine LED-Kerze für unter die Bettdecke mitzubringen. Immer noch laufen ihr die Tränen übers Gesicht, und sie gibt dabei kein einziges Geräusch von sich. Nichtmal ihre Schultern zucken. Irgendwo habe ich kürzlich gelesen, dass Flüchtlingskinder gelernt haben, sich unsichtbar zu machen und nicht aufzufallen, und sich erst wieder daran gewöhnen müssen, dass sie es einfordern dürfen, wahrgenommen zu werden. Den Kontext, die Gründe, warum dieses Unsichtbarwerden nötig war, will ich mir erst gar nicht vorstellen.

Ich rede gegen meine eigene Hilflosigkeit an. Finde eine sehr wichtige Anwendung für Adjektiv-Steigerungen, konkret den Superlativ von mutig: „Ihr seid die mutigsten Menschen, die ich kenne. Ihr habt Dinge erlebt, die ich mir nicht mal vorstellen kann, und habt es hierher geschafft. Ihr seid Helden.“

„Was ist mutig?“, fragt die Mitschülerin der Weinenden. „Was ist Held?“ Mit Pantomime komme ich hier nicht weit. „Mutig ist, wenn man keine Angst hat. Und ein Held …“ Ich überlege, ob ich Beispiele wie Superman anbringen soll. Aber das ist das falsche Bild. Mir fällt ein Zitat aus einem Online-Comic ein: 'I am a superhero because I have superpowers. They are superheros because they do not.'  „Ein Held ist man, wenn man Angst vor etwas hat, es aber trotzdem tut“, versuche ich zu erklären.

Viel mehr kann ich nicht für sie tun. Oder? Oder? Wenn ich mich einmische, überschreite ich die Grenzen meines ‚Reviers‘ als freiwilliger Helfer. Hier müssen eindeutig die Profis ran. Oder? Meine Lehrerin schaut mich fragend an, als ich ihr ihre noch nicht wieder ganz gefasste Schülerin zurückbringe. Ich erkläre ihr, was passiert ist, und spreche die „nicht gute“ Betreuungssituation im Heim an. Die ist ihr wohl bekannt, aber mehr sagt sie nicht dazu. Als ich versuche, mit ihre zu besprechen, wie man dem Mädchen helfen könnte, kündigt sie mir statt dessen an, als nächstes hätte sie eine anspruchsvolle Aufgabe für mich.

Als nächstes? Eigentlich fand ich das gerade schon mehr als anspruchsvoll. Insofern ist es quasi Erholung, mit den Jungs aus Afghanistan Landeskunde zu üben und ihnen Angelina Merkel (Bilder in meinem Kopf!!!) und den Unterschied zwischen Mindestwahlalter und kommunalen Wahlperioden (nein, wir wählen den Stadtrat nicht nur alle 18 Jahre neu, auch wenn es sich so anfühlt) näherzubringen. Wir haben unseren Spaß.

Trotzdem lässt mich die Szene von vorhin nicht los. Die Unterkunft der Mädchen liegt im Nachbarort, d.h. unser Rathaus – das auf mich einen extrem engagierten und hilfsbereiten Eindruck macht – ist nicht zuständig, ebensowenig der Helferkreis, den ich kenne. Wenn ich jetzt also in der Nachbargemeinde anrufe und nachfrage, ist das, wie man auf gut bayrisch sagt, nicht furchtbar gschaftlhuberisch (Hochdeutsche Annährung: wichtigtuerisch)? So richtig geht’s mich ja nichts an, und viel kann ich ohnehin nicht an ihrer Situation ändern. Oder?

Ich muss an ein anderes Kind denken, das ich vor knapp 2 Jahren kennenlernte (außerhalb meines eigenen sozialen Umfelds, also garantiert niemand, den ihr kennt). Ich hatte den Verdacht, dass es misshandelt wurde, und schaltete das Jugendamt ein. Und dachte, ich hätte damit meine Schuldigkeit getan. Doch das Kind sah von Woche zu Woche schlimmer aus und es schien nichts zu passieren. Aber die Zuständigen wussten schließlich Bescheid. Der Rest war nicht meine Sache. Oder? Mehr als anrufen konnte ich doch schlecht tun. Oder? So dachte ich. Bis ich es nicht mehr aushielt und in einem Anfall von wütendem Aktionismus die Polizei einschaltete, mehreren Jugendamtsmitarbeitern auf den AB sprach und eine sehr emotionale E-mail schickte. Dann erst wurde dem Kind endlich, endlich geholfen.

Die Moral von der Geschichte? Es mag nicht in meine Zuständigkeit fallen. Es mag sein, dass ich nicht viel erreichen kann. Es könnte sein, dass ich mich wichtigmachen muss, was mir tendenziell unangenehm ist. Und ja, mir ist klar, ich kann nicht die ganze Welt retten. Aber manchmal lohnt es sich, ein kleines bisschen mehr zu tun als nur das Nötigste. Auch für eine einzelne Person. Oder vielleicht gerade für eine Einzelne. Schon allein wegen der Geschichte mit den Seesternen.

05 Februar 2016

Seinen Namen für die Integration hergeben

Nach einer Woche Pause war ich diese Woche wieder an meiner Schule. Dort gibt es jetzt drei statt bisher zwei Ü-Klassen, und die Einteilung erfolgt nicht mehr nach Alter, sondern nach Kenntnissen der Schüler. Meine ABC-Schützen werden jetzt also gezielt den ganzen Vormittag alphabetisiert, und müssen nicht mehr mühsam mit dem Unterricht der Lesenden mithalten. Das bedeutet für mich, dass sich meine Aufgaben ändern. Wie genau, ist noch nicht so ganz raus. Diese Woche habe ich mit zwei Somalierinnen gearbeitet, die schon ganz gut lesen und schreiben können und voll motiviert sind.

Das Thema lautete „beim Arzt“, und die erste meiner Schülerinnen erzählte mir gleich begeistert, dass sie Krankenschwester werden will. Kurz musste ich gegen die Versuchung kämpfen, ihr statt grundlegender Gesundheitsvokabeln etwas über Gewerkschaften, schlechte Bezahlung und Arbeitskampf zu erzählen. Dann haben wir uns aber doch auf die Silbentrennung konzentriert. Silbentrennung? Braucht man das heute noch? Ich jedenfalls nicht, nichtmal im Ansatz, obwohl Worte mein Beruf sind. Prompt ließ mich mein Schulwissen im Stich. ST tut es mittlerweile nicht mehr weh, getrennt zu werden, soviel wusste ich noch. Aber heißt es Ta-blet-te oder Tab-le-tte? Und nochmal: Ist das wichtig? Macht nix, wir arbeiten uns 45 Minuten lang durch die Wörter und haben unseren Spaß.

Mit der zweiten Schülerin, einer zukünftigen IT-Spezialistin, darf ich das machen, was ich am besten kann: ein Rollenspiel. Ich bin der Arzt, sie die Patientin, die mir in ganzen Sätzen ihre Beschwerden schildern soll. Sie lacht viel, während mir Zahnweh vorspielt, sich von mir mit dem Bohrer traktieren lässt und schließlich in der Apotheke mit meinem Rezept noch ein Schmerzmittel abholt. Ein paar Wörter zeige ich ihr mithilfe meines Bildwörterbuchs (ich mache hier schamlos Werbung, weil der Verlag es mir netterweise umsonst zugeschickt hat und ich es wirklich hilfreich finde). Als sie dort das Bild einer Spritze entdeckt, deutet sie einigermaßen entsetzt darauf und erzählt, dass sie in Deutschland lange im Krankenhaus war, weil sie Herzprobleme hatte. Sie zeigt mir, wo überall Nadeln in sie reingesteckt wurden. Auf dem Handrücken hat sie eine große Narbe. Sowas kommt nicht von einer Infusion, es sieht eher aus wie eine Brandnarbe oder Verätzung. Ich muss schlucken, kann aber nicht weiter darüber nachdenken, weil sie weitererzählt: Wenn sie jetzt krank wird, sagt sie es ihrem Betreuer nicht, weil sie nicht mehr zum Arzt will. Hier ist viel mehr nötig als Vokabeln. Aber um verlorenes Vertrauen wiederzuherstellen, kann man in 45 Minuten nicht viel tun. Wieder bin ich ein verschwindend kleiner Tropfen auf einen viel zu heißen Stein.

Immerhin bin ich jetzt nicht mehr eine von zwei Helferinnen, sondern eine unter vielen. Letzte Woche gab es ein großes Treffen der verschiedenen Helferkreise hier im Ort, die beschlossen haben zu fusionieren, oder sich zumindest besser zu koordinieren. Bürgermeister, Landratsamt und Lokalpresse sind ebenfalls anwesend und versorgen uns mit Infos. Es scheint, dass unsere Kommunalbehörden ihre Hausaufgaben gemacht haben. Genug Wohnraum ist vorhanden, zusätzlicher wird im Eiltempo (und energieneutraler Holzbauweise) gebaut, im Rathaus wurden neue Stellen geschaffen bzw. umdefiniert, und es gibt eine überregionale Koordination sowohl für die offiziell zuständigen Behörden als auch für die freiwilligen Helferkreise. Auf dem Treffen konnten sich letztere besser strukturieren und Arbeitsgruppen mit festen Zuständigkeiten bilden. Sehr deutsch, ein bisschen McKinsey (= mein Schmähwort für zu viel PowerPoint-Speak) und irgendwie trotzdem immens motivierend. Hab mich hinreißen lassen, meine Mitarbeit an der Helferkreis-Webseite anzubieten. Aber Texte schreiben kann ich ja immer irgendwie zwischenreinquetschen, und alles, was veröffentlicht wird, kann ich zudem auch als Referenz für meine Übersetzertätigkeit verwenden.

Die Schule hat das Treffen genutzt, um weitere Helfer für den Sprachunterricht anzuwerben. Dafür haben sich erstaunlich viele ausländische Studenten gemeldet, was ich aber sehr sinnvoll finde, denn die sind mit den Hürden des Deutschlernens und der Theorie der Grammatik sicherlich viel vertrauter als wir Muttersprachler. Und vielleicht kann man sich auch mal zusammentun und mit den Kids abseits des Unterrichts gemeinsam was machen.

Halse ich mir gerade zu viel Arbeit auf? Gut möglich. Aber obwohl das Ergebnis meiner Arbeit sehr unspektakulär bis unsichtbar ist, fühlt es sich so an, als würde ich (abgesehen von meiner Arbeit als Mutter) endlich mal etwas wirklich Sinnvolles und Wichtiges tun. Da reicht es völlig, wenn meine stets missgelaunte Nigerianerin sich nach dem Unterricht mit einem lapidaren „Today gut!“ von mir verabschiedet, und ich habe den ganzen Tag gute Laune.

Bin ich zu anspruchslos? Ich glaube, Menschen gegenüber, die alles Vertraute aufgegeben oder verloren haben, sollte man mit Ansprüchen eher zurückhaltend sein. Das Leben verlangt ihnen so viel mehr ab, als wir, die wir in Frieden und Wohlstand aufgewachsen sind, es jemals ermessen können. Sie müssen sich so anstrengen, um einen Bruchteil von dem zu erreichen, was für uns selbstverständlich ist.

Als meine angehende Krankenschwester mir ihren Namen sagt, schreibt sie ihn mir zur Sicherheit gleich auf. Sie ist es gewohnt, falsch ausgesprochen zu werden. Eigentlich, sagt sie, beginnt ihr Name nicht mit Ka, so wie sie es geschrieben hat, sondern mit Kha, was wie ein kehliges Cha ausgesprochen wird. „Aber das kann hier keiner sagen, also habe ich meinen Namen geändert“, lächelt sie. Einfach so. Keine große Sache, oder?. Jugendlich verpassen sich selbst und anderen doch sowieso andauernd irgendwelche Spitznamen, die mit ihren eigenen Namen nicht viel zu tun haben. Teil der Abkapselung vom Elternhaus und Identitätsfindung. Was aber, wenn der eigene Name eines der wenigen Dinge ist, die einen mit seiner Herkunft verbinden? Müsste man sich, allein* in einer völlig fremden Gesellschaft, nicht mit aller Macht wenigstens daran festhalten? Und da sitzt dieses junge Mädchen und gibt fröhlich auch diesen Teil ihrer Identität auf, um es uns einfacher zu machen, sie zu integrieren. Ich verlasse den Unterricht mit dem Vorsatz, mir möglichst schnell in allen relevanten Sprachen den Satz „Du bist ein Held“ anzueignen.


*Meine Schüler sind alle unbegleitet, d.h. ihre Familie ist noch im Heimatland… oder gar nicht mehr da.

11 Januar 2016

Another one

Mit gemischten Gefühlen und einer Tasche voll neuer Materialien habe ich heute die Schule betreten. Weil ich mir unsicher war, inwieweit ich die Lehrerin davon überzeugen kann, dass ich diese einsetzen darf. Eigentlich absurd. Aber natürlich kam alles ganz anders.
Der Unterricht dauerte heute nur eine Schulstunde, weil meine Nigerianerin krank ist - und einer meiner Afghanen "jetzt wohl weg". Mehr Info bekam ich dazu nicht. Er war der beste meiner drei Schüler. Ob ihm irgendwas von dem, was er hier gelernt hat, zu Hause etwas nützen wird? (Im Nachhinein frage ich mich auch, ob die Klasse insgesamt so leer aussah, weil viele krank waren, oder weil viele abgeschoben wurden?)
Bis auf Weiteres werde ich also wohl nur noch zwei Kinder unterrichten. Trotz des angeblich anhaltenden Flüchtlingsstroms und neu geschaffener Wohnkapazitäten scheinen hier in unserem verschlafenen Ort nämlich nicht viele Neue anzukommen.
Dafür lief der Unterricht mit meinem verbleibenden Afghanen heute richtig gut: Er sollte erst Silben, dann Wörter entziffern und jeweils aufmalen, was er gerade gelesen hatte. Tomate, Kartoffel, Gabel, Topf... Dann dasselbe mit Worten, die ich ihm diktierte. Das Schreiben lief relativ katastrophal, obwohl er die Buchstaben, wenn man sie einzeln diktiert, schon so gut wie fehlerlos kann. Und ein Künstler wird wohl auch nicht aus ihm werden. Aber der Praxisbezug schien ihm richtig gut zu gefallen.
Sehr geholfen hat uns beim Kommunizieren diesmal das Bildwörterbuch, das ich über Connections von einem Verlag zugeschickt bekommen habe. Damit konnten wir Obst, Gemüse und Essbesteck identifizieren, die ich (ebenfalls künstlerisch unbegabt und nur mit einem Kugelschreiber ausgestattet) sicher nicht eindeutig genug hätte aufmalen können. Und weil der Verlag so großzügig war, mir das und andere Materialien kostenlos zur Verfügung zu stellen, mache ich hier mal etwas Werbung für das Bildwörterbuch.
Gegenstände, die da nicht auf Anhieb zu finden waren, suchten wir über diese Seite hier, auf die mich eine Freundin aufmerksam machte. Die ist ähnlich wie das Buch (leider ohne Text-Suchfunktion), beinhaltet aber z.T. andere Wörter, und der große Vorteil, man kann's sich aufs Handy runterladen.
Bei der Gelegenheit erzählte mir mein Schüler in einer Mischung aus Deutsch, Englisch, Paschto und Händen und Füßen, dass sein Handy geklaut worden ist. So ärgerlich das für ihn ist - es bot uns einen Anlass zu echter Kommunikation. Endlich stellt sich bei mir das Gefühl ein, ich sitze echten Menschen gegenüber statt schlecht funktionierenden Schreibautomaten.
Nach der Schreib- und Malübung sollte ich noch ein paar Worte einfach so diktieren. Als uns der Pausengong unterbrach, blieb mein Schüler sitzen und meinte "another one, just one". Und schrieb ganz tapfer und mit viel Überlegen und Nachfragen und obwohl die Lehrerin reinschaute und uns rauswerfen wollte noch ein weiteres Wort. Ich muss immer noch breit grinsen, wenn ich dran denke. Lektion das Tages für mich: Motivierte Schüler wirken Wunder für die Motivation der Lehrerin.

Dummerweise habe ich dann die Lehrerin nicht mehr gefunden, um über Unterrichtsmaterialien zu sprechen. Also stecke ich meine neu gewonnene Motivation in die Tasche zu den bunten Büchern und Spielen und hoffe auf nächste Woche.

09 Januar 2016

Über Zivilisation

Eigentlich schreibe ich nicht so gern über Politisches. Meistens fühle ich mich zu uninformiert, um wirklich etwas Aussagekräftiges zustande zu bringen, was über mein Bauchgefühl-Urteil hinausgeht. Aber momentan geht es überall so emotional zu, und das zu einem Thema, das mich so persönlich betroffen macht, dass ich meine eigenen emotionalen Gedanken dazu aufschreiben möchte, schon um sie etwas zu sortieren. Und einen Aspekt zu erwähnen, der mir in der Diskussion bisher zu kurz zu kommen scheint.

Eine zivilisierte Gesellschaft muss sich daran messen lassen, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht. Dazu gehören zum Beispiel Flüchtlinge. Leider stellen offenbar auch Frauen eine schwächere Gruppe dar. Und nicht zuletzt gehören auch Verbrecher dazu, wenn sie denn dingfest gemacht werden und über sie Recht gesprochen wird.

Momentan haben wir die schöne Situation, dass zwei schwache Gruppen – Frauen und Flüchtlinge – gegeneinander ausgespielt werden. Und es eine gehörige Portion Reflexion und Selbstbeherrschung braucht, um sich nicht eindeutig auf eine Seite zu stellen. Eins ist sicherlich klar: Frauen sexuell zu belästigen, sie in ihrer körperlichen Unversehrtheit und ihrer Würde anzugreifen, um sie dann auszurauben, ist ein schweres Verbrechen. Oder? Wirklich? Ich überlege, was passieren würde (den Konjunktiv braucht’s hier eigentlich nicht), wenn deutsche Männer sowas machen würden. Für Raub gibt’s schon substanzielle Strafen, soweit ich informiert bin. Aber für den anderen Teil, den, über den sich gerade alle so empören?

Ich muss an den Nachbarn denken, der die 10jährige, auf die er aufpassen soll, zum Masturbieren missbraucht. Den 18jährigen, der die 12jährige, die sich heimlich auf die Party geschlichen hat, in ein Schlafzimmer drängt und vergewaltigt. Den Sporttrainer, der seine 16jährige Schülerin missbraucht. Den Tanzlehrer, der seine Kundin in ihrer eigenen Wohnung, wie es so schön heißt, „von Hand“ sexuell nötigt. An die vier Jungs in meiner Klasse, alle gerade im strafmündigen Alter, die mich über ein Jahr hinweg ständig massiv sexuell belästigt und gedemütigt haben. Und möchte die Reaktionen derjenigen, die für den Schutz der betroffenen Frauen und Mädchen verantwortlich gewesen wären (hier ist der Konjunktiv sehr angebracht), in Ausschnitten zitieren.

„Nichts von dem, was er getan hat, ist nachweisbar, d.h. vor Gericht ist er wahrscheinlich nicht zu belangen. Zeigen Sie ihn lieber nicht an, schließlich weiß er, wo Sie wohnen.“ (Die Polizei)

„Sag das bloß nicht deinen Eltern, sonst kriegen wir Ärger, weil wir uns rausgeschlichen haben.“ (Die beste Freundin, die die Eltern gut kannte.)

„Natürlich habe ich gesehen, was die mit dir gemacht haben. Schlimm.“ (Die Lehrerin, die es nicht für nötig hielt, irgendwie einzugreifen.)

„War’s denn wirklich so schlimm?“ (Die Eltern)

Klingt irgendwie anders als die öffentliche Empörung, die momentan herrscht, oder? Nur einer der Täter in den Fällen oben, die alle aus meinem engeren Freundeskreis stammen, war übrigens Ausländer. Keinem von ihnen ist irgendwas passiert. Der Nachbar ist irgendwann in einen anderen Ort weggezogen, vermutlich eher freiwillig als durch sozialen Druck. Der Tanzlehrer „unterrichtet“ fleißig weiter. Meine Klassenkameraden haben noch weitere fünf Jahre mit mir in einer Klasse verbracht, und ihr altes Spiel in dieser Zeit immer mal wieder aufgegriffen, wenn auch nicht so massiv. Die Eltern des vergewaltigten Kindes haben nie davon erfahren, und natürlich wurde der Täter nicht belangt. Was mit dem Sporttrainer passiert ist, weiß ich nicht mehr genau. (Insofern ist das „keinem“ von oben nicht ganz 100%ig sicher. Ist ja aber sowieso nur anecdotal evidence.)

Angesichts dieser, meiner persönlichen Faktenlage – meiner Normalität – fühle ich mich momentan schamlos verhöhnt von all denen, die auf einmal harte Strafen für etwas fordern, unter dem viele Frauen gewöhnlich still und leise und ungeschützt leiden dürfen. Die plötzlich verlangen, dass überkommene Männlichkeitsideale und Frauenfeindlichkeit einer fremden Kultur diskutiert werden, und bisher völlig blind – oder wie meine liebe, ach so feministische Deutschlehrerin sehenden Auges – alles ignoriert haben, was in unserer eigenen „Kultur“ so abläuft. Ja, wir dürfen hier ohne Schleier rausgehen und werden nicht gesteinigt, wenn wir die Frechheit besitzen, uns außerehelich vergewaltigen zu lassen. (Gerade letzteres kann man nicht genug wertschätzen.) Aber wer glaubt, dass es ausländischer „Werte“ bedarf, um Frauen zu Objekten zu machen, an denen sich einzelne Männer nach Belieben bedienen und ihre gefühlte Überlegenheit ausleben dürfen, ohne dass wir adäquate Mittel hätten, uns zu schützen und zu wehren … der darf nochmal nachdenken.

Wenn ich darüber nachdenke, wünsche ich all diesen Männern die Pest an den Hals. Oder Schlimmeres. Die Realität ist aber wohl, dass sie ihre Taten längst einfach vergessen haben. Oder fröhlich weitermachen. Oder ein ganz normales, unauffälliges Leben leben. Normalerweise verspüre ich den starken Wunsch, dass niemandem, egal wie anständig oder unanständig er/sie sich verhält, etwas wirklich Schlechtes zustößt – bei diesen Männern sagt mir mein Bauchgefühl das Gegenteil. Ich will ihnen so wehtun, wie sie mir und anderen wehgetan haben, oder vorzugsweise noch mehr.

Aber das ist ein kindlicher Wunsch, dessen Erfüllung zu nichts Gutem führen kann. Ich bin prinzipiell gegen die Todesstrafe und jede Form der körperlichen Bestrafung, und halte deren Abschaffung für einen Grundstein jeder zivilisierten Gesellschaft. Also kann ich nicht nur, weil ich mich persönlich betroffen fühle, meine Prinzipien über Bord werfen und eine derartige Bestrafung fordern.

Eigentlich darf ich nicht mal verlangen, dass die Täter strenger bestraft werden als all die oben beschriebenen Arschlöcher. Gleiches Recht für alle. Auch ein wichtiger Grundstein zivilisierten Zusammenlebens, an den ich glaube. In diesem Fall ist es nur leider gleiches Un-Recht, da Menschen für ihre eindeutigen Straftaten nicht belangt wurden.

Insofern wünsche ich den Tätern von Köln und aus den anderen Städten durchaus, dass sie härter bestraft werden, als das mit Sexualstraftätern hierzulande momentan üblich ist – wenn sich daraus ein Trend entwickelt und man in Zukunft alle Sexualstraftäter angemessen bestraft.

Aber was ist angemessen? Handelt es sich bei den Tätern um Flüchtlinge, fordern viele, dass diese abgeschoben werden. Dazu muss man sich aber zunächst anschauen, warum die Flüchtlinge hier sind. Es gibt sicher einige, die „nur“ nach Deutschland kommen, weil es hier bessere wirtschaftliche Perspektiven für sie gibt. Sehr viele sind aber hier, weil sie verfolgt oder bedroht werden. Wenn man diese abschiebt, verurteilt man sie also zur Rückkehr in eine existenzbedrohliche Situation, schlimmstenfalls zu körperlichen Verletzungen oder zum Tod. Nur weil wir es nicht persönlich sind, die diese „Strafe“ ausführen, sondern verbrecherische Regierungen, irre Terroristen oder Kriegsparteien in einem anderen Staat, heißt das nicht, dass wir durch die Abschiebung nicht dafür verantwortlich sind.

Und hier kommt die Zivilisation ins Spiel. Denn Strafe darf eben nicht gleich Rache sein. Erstere bietet eine gewisse (diskutierbare) Regulierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Letztere führt zu einem Teufelskreis aus Gewalt, der sich immer weiter hochschaukelt. Aus meiner persönlichen Erfahrung heraus kann ich nicht anders: Ich hasse und verabscheue die Täter. Die, die mir und meinen Freundinnen solche Dinge angetan haben ebenso wie die aus Köln und anderswo. Ich kann aber sehr wohl meinen Kopf einschalten, mir klar machen, was für Konsequenzen eine Abschiebung mit sich bringen kann – und entscheiden, dass ich das, egal, was der Mensch getan hat, auf keinen Fall verantworten will. Und selbst wenn ich das nicht könnte, so wie viele andere, Betroffene wie nicht direkt Betroffene es derzeit offenbar nicht können, dann ist es die Pflicht einer Gesellschaft, die sich zivilisiert nennen will, sicherzustellen, dass die angemessene Anwendung des Rechts nicht in primitive und vor allem selektive (=nur auf Flüchtlinge angewandte) Rache umschlägt.

Wenn wir nicht mit Arschlöchern leben wollen, dann sollten wir uns mal überlegen, wie wir unsere eigene Gesellschaft ändern, damit sie nicht mehr so viele davon produziert. Und ihnen, egal woher sie kommen, bessere Werte vorleben.

21 Dezember 2015

Pädagogikfrust und Frustpädagogik

Heute hätte ich meine Flüchtlinge beinahe vergessen. Lag wohl an meiner Erkältung und einer recht unruhig verlaufenen Nacht – und vielleicht auch ein bisschen an dem Gefühl, dass ich mit meinen Schülern nicht so recht vorankomme.

Mit schlechtem Gewissen, laufender Nase und außer Atem bin ich also heute in die Schule gehetzt. Und mir eine Extradosis Frust abgeholt. Mein Unterricht – sofern ich ihn als ‚meinen‘ bezeichnen kann – läuft immer gleich ab. Ich kriege Arbeitsblätter von der Lehrerin, auf denen einzelne Buchstaben vorgeschrieben sind. Die dürfen die Schüler erst nachmalen, dann selber in die Zeilen schreiben. Dann diktiere ich ein paar Buchstaben, dann sollen sie Silben vorlesen. Das ist genauso langweilig, wie es klingt. Ich kann damit umgehen. Aber die Schüler sind Teenager. Sie wirken oft erschöpft. Sie sind zum Teil keinen Schulunterricht gewöhnt. Alle sind momentan erkältet. Man kann ihnen nicht wirklich vorwerfen, dass sie diese Aufgaben nur mit mäßigem Interesse abspulen und nicht viel davon im Kopf behalten.

Seit ich diesen Unterricht mache, denke ich drüber nach, wie man ihn besser machen könnte. Das Domino-Spiel hat ganz gut funktioniert, war aber im Prinzip nur eine kurze Auflockerungsübung. Trotzdem würde ich es gerne wieder einsetzen, einfach um den Schülern zu zeigen, dass man beim Lernen auch Spaß haben kann. Und natürlich gibt es in der Richtung noch viel mehr Möglichkeiten. Ich habe schon jede Menge Sprachspiele rausgesucht, die man mit ihnen machen kann, wenn sie ein bisschen mehr können. Und überlege, ob ich ihnen einfach mal einen Packen Comics mitbringe. Und dann gibt es natürlich einiges an Smartphone-Apps zum Lesen lernen.

Aber all das geht nicht, weil wir ja die Arbeitsblätter durcharbeiten müssen. Die Klassenlehrerin hat heute extra nochmal betont, ich soll nichts anderes mit ihnen machen, man müsse ja schließlich mal weiterkommen. Da ich eh schon zu spät dran war und ihren regulären Unterricht mit den anderen Kindern nicht noch weiter stören wollte, hab ich die Diskussion mit ihr auf später verschoben und brav den Stoff mit meinen Schülern durchgeackert. Die Fortschritte sind sichtbar, aber nur mit einer großzügigen Lupe. Mein Afghane schreibt immer noch lieber von rechts nach links als umgekehrt, und für alle sind Vokale immer noch eine große, sehr verwirrende Herausforderung. Als der Pausengong uns erlöst, mache ich einen kleinen Versuch der Subversion und frage, ob sie ein Smartphone hätten. Alle bejahen. „Gut“, sage ich, „es gibt da nämlich eine App zum …“ Lesen lernen sage ich nur noch zum leeren Zimmer, meine Schüler sind bereits auf dem Weg in die Pause. Verabschiedet haben sie sich auch nicht. Habe ich was Falsches gesagt? Oder haben sie gar nicht verstanden, dass ich ihnen was sagen wollte?

Da ist mein Hauptproblem. Ich weiß nach vier Wochen immer noch kaum etwas über meine Schüler. Weder das genaue Alter, noch wo sie herkommen, geschweige denn, wie gut sie eigentlich Deutsch können. Ich habe keine Zeit, mit ihnen als Menschen zu interagieren. Zusammen sind wir eine Maschine, die das Programm abspult, mit dem sie gefüttert wird, mehr nicht. Ich bin kein Fachmann, aber für mich ist diese Art zu Lernen tiefstes Mittelalter.

Und da ist das zweite Problem: Ich bin tatsächlich kein Fachmann. Ich kann mich nur von meinem Bauchgefühl und dem, was ich mir notdürftig im Internet anlese, leiten lassen. Die Klassenlehrerin ist Grundschullehrerin – sie wird ja schließlich wissen, wie man am besten Lesen und Schreiben lernt. Oder?

Sie fragt mich nach den Fortschritten meiner Schüler und kommentiert, dass sie da null Lernbereitschaft sieht. „Die haben einfach keine Lust.“ Hm. Kann ich mir gut vorstellen, denke ich mir. Vielleicht kann man ihnen ja Lust machen? Ich erzähle ihr von der App, und will sie fragen, wie ich es bewerkstelligen kann, dass die Schüler die kriegen (meinen dreien würde ich sie ohne zu Zögern schenken, vier Euro pro Schüler kann ich mir schon mal leisten, aber wenn das die anderen mitkriegen, gibt’s wahrscheinlich Ärger). Aber so weit komme ich gar nicht. „Sowas hat ja in der Schule nichts verloren“, würgt sie mich ab. Ähm. Nicht? Und warum genau nicht? Natürlich sollen die Schüler nicht während des Unterrichts zocken. Aber sie sind jetzt über die Ferien zwei Wochen nicht in der Schule. Ich bin mir relativ sicher, dass sie sich in der Zeit nicht viel mit ihren drögen Arbeitsblättern beschäftigen werden.

Während ich noch versuche, die Ignoranz dieser Aussage zu verarbeiten, kommt eine Schülerin zu uns. Sie entschuldigt sich bei der Lehrerin, dass sie heute im Test so schlecht war. „Ja, das habe ich gesehen.“ Anklagend hält die Lehrerin ihr ihren Test unter die Nase. „Warum hast du denn hier nichts geschrieben? Und da? Das wird eine Vier. Traurig.“ Das Mädchen schluckt. Ich zwinkere ihr zu und lächle sie aufmunternd an. Mehr fällt mir nicht ein – der Lehrerin vor den Kindern widersprechen kommt wahrscheinlich nicht so gut. Das heißt, eigentlich wäre es das einzig Wahre. Denn ich bin mit der Art, wie sie mit den Kindern umgeht, nicht einverstanden. Aber schließlich muss ich mit ihr zusammenarbeiten. Und sie signalisiert ziemlich eindeutig, dass sie nicht gut damit umgehen kann, wenn man sie in Frage stellt.

Sie schließt das Klassenzimmer ab und beschwert sich, dass man die Kinder in jeder Pause rausscheuchen muss, weil sie immer wieder versuchen, sich davor zu drücken und drin zu bleiben. Sie schimpft über einen Schüler, der unbeherrscht reagiert, wenn er kritisiert wird. Sie ärgert sich über einen Schüler, der sie nicht ansieht, wenn sie mit ihm spricht. Scheinen mir alles ziemlich alltägliche Probleme zu sein. Vielleicht ist diese Alltäglichkeit ja auch tatsächlich gut für die Kinder. Die allgemein negative Haltung allerdings – die sicher nicht. Nicht für meine drei jedenfalls. Ich stecke in dieser Maschine fest und sehe noch nicht so recht, wie ich da rauskomme. Auf keinen Fall will ich meine Schüler hängen lassen. Auch wenn ich mangels Zeit zum Reden noch immer keine besonders persönliche Beziehung zu ihnen habe, ist meine Entschlossenheit, genau diesen Dreien zu helfen, kein bisschen angeknackst. Ich bin mir sicher, dass ich das schaffen kann. (Da ist er wieder, der wichtige Satz.) Ich bin mir nur noch nicht sicher, wie ich meinen Schülern trotz ihrer Lehrerin helfen kann.

15 Dezember 2015

26 bunte Buchstaben und 22 Liter Wasser

Als ich gestern vor der Klasse auf die Lehrerin wartete, kam einer der Schüler, die schon besser Deutsch können, mit seinem Arbeitsblatt zu mir und deutete auf einen Satz. „Eine Spülmaschine verbraucht durchschnittlich 22 Liter Wasser pro Spülgang.“ Er sah mich fragend an. „22 Liter? Richtig?“ Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung. Genausowenig, wie ich weiß, wieviel Wasser man in von Dürre bedrohten Gebieten so durchschnittlich pro Tag zur Verfügung hat? Wie lange kann man mit 22 Litern überleben? Zwei Wochen? Länger? Ich fühle mich beschämt. We are poor because you are rich.* Genauso unvorstellbar wie das Leid der Flüchtlinge ist, wie gut es uns im Kontrast zu fast dem ganzen Rest der Welt geht. Aber vielleicht will der Schüler auch nur wissen, ob er die Aufgabe richtig gerechnet hat? „Ja“, sage ich, „stimmt. Ganz schön viel, oder?“ Ich glaube, er versteht meine Antwort ebensowenig wie ich seine Frage.

Seit drei Wochen unterrichte ich ‚meine‘ Flüchtlinge jetzt. Und komme mir vor wie der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein. Zwei Stunden die Woche sind nichts, selbst wenn man in der Zeit nur zwei bis fünf Kinder unterrichtet.

Gestern ging ich einigermaßen schlecht gelaunt in den Unterricht. Mein lange und sehnlich erwartetes Spielewochenende mit Freunden ist darmgrippemittelohrentzündungerkältungsbedingt ins Wasser gefallen, meine Arbeit stresst mich zur Zeit mehr als üblich, und irgendwie habe ich das Gefühl, dass mein Beitrag zur Unterstützung der Flüchtlinge … nicht dramatisch genug ist. Wenn ich Berichte lese und Bilder sehe, wie schrecklich die Situation für die Menschen auf der Flucht ist, was sie mitmachen und entbehren und riskieren, dann möchte ich ins Auto steigen und die gesamte Balkanroute abfahren, um Essen und Kleidung zu verteilen, ich möchte auf einem Schiff übers Mittelmeer fahren und sie aus ihren seeuntauglichen Nussschalen fischen, ich will nicht ein Kind, sondern eine ganze Horde Kinder adoptieren … einfach weil ich es nicht aushalte, wie schlecht es den Leuten geht. Natürlich ist das unmöglich und überzogen. Oder? Kann man überhaupt überzogen empathisch sein? Das Gegenteil scheint ja für viele Leute auch gut zu funktionieren …

Stattdessen sitze ich hier und übe mit zwei Kindern das R, das T und das N. Das Lesen ist für meine Kandidaten anstrengend bis qualvoll. Die Wörter werden in der falschen Richtung geschrieben, und wenn sich die Buchstaben zu Silben zusammenfügen sollen, sind immer die dummen Buchstabier-Vokale (Be, Ce, De …) im Weg. Irgendwann – meist frustrierend schnell – versagt die Konzentration und alles verschwimmt zu einem unleserlichen Brei.

Beim letzten Mal hatte ich als Ergänzung zu den grau bedruckten Arbeitsblättern, auf denen man einzelne Buchstaben ordentlich in Zeilen schreiben lernt, ein paar bunt bebilderte Buchstaben mitgebracht. (Ein Igel war nicht dabei, das I war mit einem Indianer illustriert – für deutsche Kinder sicherlich naheliegend, aber liest man in Syrien oder Afghanistan Indianergeschichten?) Der Lehrerin schien das nicht so recht zu sein, die Kinder würden ja die Vokabeln nicht kennen, also würden die Bilder auch nichts nützen. Ich hatte eher das Gefühl, die Schüler stürzen sich begierig auf alles Konkrete, Praktische, was sie kriegen können, und versuchen auf einmal auch die Wörter zu lesen, zu denen sie noch nicht alle Buchstaben kennen. Trotzdem habe ich heute einen anderen Ansatz versucht. Nicht zuletzt ermutigt durch Gespräche mit einer Bekannten, die als Sozialpädagogin in der Bayernkaserne arbeitet, habe ich meinen Kindern ein Buchstabendomino aus dem Spielzeugschrank geklaut und zur Auflockerung zwischendrin mit den Flüchtlingen gespielt. Und da war es zum ersten Mal: das Gefühl, das etwas zu ihnen durchdringt, dass sie Interesse haben, etwas dankbar aufnehmen. Hinterher hat das Lesen auch besser geklappt, und die Motivation war definitiv größer.

Und ich sehe Fortschritte. Minikleine. Mein Afghane schreibt zwar in etwa auf dem Niveau meiner vierjährigen Tochter (ja, sie ist früh dran). Aber er kriegt immerhin schon einzelne Silben zusammen gelesen. Und der Gesichtsausdruck, als er heute zum ersten Mal seinen Namen entziffert hat, war unbezahlbar. „Name? My name??“

Der Weg, der noch vor meinen Schülern liegt, bis überhaupt irgendeine Verständigung möglich ist, scheint mir fast so lang und mühsam wie die Reise, die sie hinter sich haben. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil sie sich nach all den Strapazen immer noch so anstrengen müssen, um endlich wirklich hier anzukommen. Aber was bleibt ihnen sonst übrig?

Ich trage meine Dominokarten und mein schlechtes Gewissen nach Hause. Doch irgendwie ist die miese Laune weg. Einen ganz kleinen Schritt sind meine Schüler heute weitergekommen. Während ich mir einen Belohnungskaffee mache, räume ich die Spülmaschine ein.


* Der Film, aus dem dieses Zitat stammt, ist übrigens sehr empfehlenswert. Er stammt aus den frühen 90ern und nimmt praktisch alles vorweg, was gerade passiert. Werde ihn hier sicherlich noch des Öfteren zitieren.

02 Dezember 2015

Gibt es in Nigeria eigentlich Igel?



Seit Montag bin ich endgültig unter die Gutmenschen gegangen: Einmal pro Woche gebe ich ab sofort ein paar Flüchtlingskinder Sprachunterricht. Und werde versuchen, hier regelmäßig darüber zu berichten.

Vor dem ersten Mal war ich einigermaßen aufgeregt. Sprachunterricht ist mir vertraut, aber eben nur in der Eigenschaft als Schüler. Die eigene Sprache, die man als Kind ja völlig ohne theoretischen Unterbau erworben hat, jemandem beizubringen, mit dem man ggf. nur mit Händen und Füßen kommunizieren kann, scheint mir eigentlich schon schwierig genug, so dass ich dafür gern etwas extra Vorbereitung hätte (vorzugsweise ein DaF-Studium, wenigstens in Kurzform). Ist aber wohl nicht drin. Also muss man sich halt mit dem bisschen gesunden Menschenverstand, über den man verfügt, sowie möglichst viel Einfühlungsvermögen begnügen, und das Beste draus machen. Mein Fazit nach den ersten zwei Stunden: Das wird nicht leicht.

Aus einer von zwei Klassen mit je ca. 25 Kindern zwischen (geschätzt) 14 und 17 Jahren unterstütze ich diejenigen, die noch gar nicht oder sehr wenig lesen und schreiben können. Das ganze parallel zum Unterricht, in einem ca. 2 qm großen Garderobenraum mit einem Tisch und ein paar Stühlen drin. Dazu ein paar Arbeitsblätter und Stifte. Sonst nix. Die erste Stunde sind zwei Mädchen dran, die zweite drei Jungs. Ich weiß nichts über die Kinder, und soll sie auch möglichst nichts fragen – alle sind unbegleitet, keiner weiß, was mit den Eltern ist, Retraumatisierung ist unbedingt zu vermeiden. Die einfachsten Wörter, die man schon mit zwei Buchstaben schreiben könnte, fallen damit aus: Mama und Papa.

Als ich in die Klasse komme (zu spät, denn unsere Schulen werden nach Unterrichtsbeginn heutzutage offenbar alle abgesperrt, was nichts mit den Flüchtlingen, sondern mit der allgemeinen Unsicherheit unserer Straßen zu tun hat, werden ja dauernd Kinder aus der Schule entführt – oder?), werde ich von den Jugendlichen fröhlich mit „Guten Morgen, Frau Braun“ begrüßt, einige grinsen, andere blödeln, manche schreiben schon – scheinbar ganz normaler Schulalltag, nur mit insgesamt etwas dunklerem Hautton. Die Lehrerin stellt mich kurz vor, drückt mir Arbeitsblätter und zwei Kinder in die Hand und wirft uns zu dritt ins kalte Wasser.

Die Mädchen sitzen in dem beheizten Zimmer mit Mütze respektive Kopftuch und scheinen trotz warmer Kleidung zu frieren. Beide sprechen ein paar Worte Englisch und ebenso wenige Deutsch. Die eine kämpft mit jedem einzelnen Buchstaben. Die andere schreibt mir nach ein paar Minuten das ganze Alphabet hin und fragt, ob sie jetzt wieder in den richtigen Unterricht darf. Offenbar ist die Information der Lehrerin nicht ganz richtig. Bei 25 Kindern hat sie wahrscheinlich auch nicht die Zeit, das vorhandene Wissen bei jedem einzeln abzuprüfen. Prompt will die Lehrerin sie wieder rauswerfen, bis sie spontan die Worte an der Tafel vorliest, und uns aufmalt, was sie nicht kann: 3 + 3. Memo an mich: Für nächstes Mal Mathe vorbereiten.

Nach der Pause sind die Jungs dran. Keine Ahnung, ob die Geschlechtertrennung beabsichtigt ist. Generell habe ich zu wenig Info: Wo die Kinder herkommen, welche Sprache sie sprechen, welchen kulturellen/religiösen Hintergrund sie haben, wo sie wohnen (hier am Ort gibt es insgesamt nur ca. 70 Flüchtlinge, davon wird nicht über zwei Drittel aus unbegleiteten Jugendlichen bestehen), was sie mit dem Rest des Tages machen. Im Internet findet sich kaum etwas darüber, wie man mit den sogenannten umF, unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen umgeht. Und obwohl einiges an kostenlosem Unterrichtsmaterial vorhanden ist, findet sich fast nichts zur Alphabetisierung. Ich male dem Mädchen, das besonders mit dem i zu kämpfen hat, einen Igel auf. Sie erkennt das Tier nicht. Was durchaus an meiner Zeichnung liegen könnte. Aber gibt es in Nigeria überhaupt Igel? Selbst wenn, haben die dort bestimmt einen Namen, der nicht mit i beginnt. Wo fängt man da an?

Die Jungs sind lebhafter als die Mädchen, aber auch sie malen brav die Buchstaben ab. Bis sich herausstellt, dass auch sie das Alphabet schon größtenteils können. Nur einer sitzt still da, beschattet die Augen mit der Hand und scheint sich unwohl zu fühlen. Ich versuche, ihn zu motivieren, ohne zu drängen, während der andere seinen Bleistiftspitzer mit brutaler Gewalt, aber in aller Seelenruhe auseinandernimmt, um den Stift dann nur mithilfe der Klinge zu spitzen. (Später stellt sich heraus, dass der Spitzer einer Mitschülerin gehörte!) Der Tisch ist voller Plastiksplitter, Bleistiftspäne und vollgeschriebener Arbeitsblätter, der Gong lässt auf sich warten, und ich weiß nicht, was ich mit den Jungs noch anfangen soll. Sie erzählen mir, dass sie alle nicht in der Schule waren, das Alphabet selbständig gelernt haben. Einer malt mir die Buchstaben nochmal in seiner Sprache auf. Was spricht man eigentlich in Afghanistan? Ich überlege, was ich fragen darf und was zu heikel ist. Der Gong kommt immer noch nicht. Ich schaue auf meine Handyuhr, und die Jungs erhaschen einen Blick auf das Foto von Lenny, das mir als Bildschirmhintergrund dient. Ich sage, das ist mein Sohn, und zeige noch ein Bild von Matilda. Sie wollen wissen, was Vater und Mutter auf Deutsch heißt. Beide deuten auf sich. „Zu Hause kein Vater, kein Mutter.“ Der dritte malt immer noch stumm und verbissen die Buchstaben ab. Wie reagiert man auf sowas? Natürlich sind Offenheit und eine ehrliche Reaktion eigentlich immer das Beste. Aber inwieweit trage ich zur Retraumatisierung bei, wenn ich ihnen zeige, wie sehr es mir das Herz zerreißt? „Es tut mir so leid“, sage ich. Worthülsen im Angesicht eines unvorstellbaren Dramas, das für diese Kinder doch Alltag ist. „Aber jetzt, in Deutschland, gut mit Betreuer“, fahren sie unbekümmert fort. Können die Betreuer vom Jugendamt, die sich – im Schichtsystem wechselnd – um mehrere Jugendliche gleichzeitig kümmern, die verlorenen Eltern ersetzen? Schwer vorstellbar. Aber hier sitzen sie, lümmeln sich auf den Stühlen, unterhalten sich nebenher und benehmen sich wie ganz normale Schüler. Und das ist vielleicht das einzig Richtige: Alltag und Normalität.

Die Lehrerin steckt den Kopf ins Zimmer. Ich habe meine Zeit um eine halbe Stunde überzogen. Nein, hier gibt es keinen Gong zwischen den Stunden, nur zur Pause. Ich lasse die Jungs ihr letztes Arbeitsblatt fertigmachen und schicke sie wieder in die Klasse. „Auf Wiedersehen, Frau Braun“, verabschieden mich alle Kinder im Chor.
 
Ich fühle mich erschöpft. Unterricht in Kleingruppen ist sehr konzentrationsintensiv. Die Aufgabe ist auf der einen Seite nicht anspruchsvoll, auf der anderen Seite fühle ich mich überfordert, da ich weder weiß, wie ich richtig vorgehen soll, noch was die Lehrerin sich für Ergebnisse von meinem Unterricht erhofft. Das nächste Mal werde ich wohl ein paar eigene Materialien als Ergänzung mitbringen. Und mich darauf verlassen, dass ich den Kindern das Wichtigste schon gesagt habe, und es trotzdem in jeder einzelnen Stunde wiederholen, bis sie es glauben: Wir schaffen das. Du schaffst das.

14 April 2015

Everything that is wrong with society in three little ads

Ok, ich geb's zu, ich neige zu Übertreibungen. Die folgenden drei Werbespots fassen natürlich nicht sämtliche Probleme unserer Gesellschaft zusammen. Legen aber sehr pointiert den Finger auf einige davon.
Zugegebenermaßen habe ich ein gespaltenes Verhältnis zur Werbung. Wobei, gespalten ist falsch. Ein sehr kritisches, würde ich sagen, nach allem, was ich in der Werbebranche so erlebt habe. Und mangels Fernseher sehe ich nicht besonders viele Werbespots, d.h. mir fehlt der Gesamtüberblick. Wahrscheinlich gibt's total viel Werbung, die einfach nur zwischen leicht unterhaltsam und belanglos dahindümpelt und nichts weiter tut, als den Verbraucher auf ein Produkt aufmerksam macht. Anstatt ihn darin zu bestärken, sich in schwachsinnige Verhaltensweisen zu verrennen, wie die folgenden Spots.

Los geht's mit Otto:




Wo fängt man da an? Die eigene Beschränktheit, Fixiertheit auf oberflächliche Nebensächlichkeiten wie Mode und Unfähigkeit, einem Gespräch zu folgen, als anstrebenszwert zu zelebrieren ist schon mutig. Und das auch noch so völlig ohne Witz. Wenn zwischen Gorilla und Kleid wenigstens irgendein entfernter Zusammenhang bestanden hätte. Oder seh ich den bloß nicht? Vielleicht habe ich ja die Ironie des Regisseurs nicht verstanden.
Gelernt habe ich: Beschränkt sein ist ok. Mode ist wichtiger als einzigartige Erlebnisse. Post-Postmodernismus?

Weiter geht's mit Voltaren:


Kann dein Leben einen Tag auf dich verzichten? Natürlich nicht. Bringe nur ein einziges Mal nicht die volle Leistung, sei nur einmal Mensch anstatt funktionierende Maschine, und du bist raus aus dem Spiel. Karriere vorbei. Leben zuende. Liebe Werbeleute von Novartis, ich bin überzeugt, ihr alle arbeitet nach diesem Credo (weil ihr in der Werbung seid). Aber ich wünsche euch allen, dass dieser Spot in fünf Jahren, wenn ihr alle in der Reha-Klinik sitzt oder alkohol- und drogenbedingt arbeitslos zuhause fernseht, noch einmal läuft. Und euch wenigstens ein bisschen erschreckt.

Und zum krönenden Abschluss noch Wick:


Mütter nehmen sich nicht frei. Natürlich nicht. Auch wenn es ja schon lange die Möglichkeit gibt, dass der arbeitende Elternteil sich krankschreiben lässt, wenn der kinderbetreuende Elternteil krank ist. Aber sowas macht man ja nicht als Arbeitnehmer, das ist ja quasi wie Blaumachen. Das bisschen Kind versorgen kriegt man doch auch mit Grippe hin.
Aber darum geht's mir gar nicht primär. Sondern vielmehr um zwei kleine Details: Die Formulierung "nehmen sich nicht frei" - war die Frau im Spot nicht krank? Was hat das mit Freinehmen zu tun? Sind wir jetzt schon in Japan, wo man seine Urlaubstage größtenteils für Krankheitstage verbraucht, aus Rücksicht auf Firma und Kollegen?
Und dann der ganz beiläufige Satz, den man in so einem Fall wohl völlig selbstverständlich zum Chef sagt: "Bin mobil erreichbar." Warum, zum Teufel, wenn du krank bist? Damit du dich auch ja nicht erholst? Aus schlechtem Gewissen, weil du deinem armen Unternehmen solche Probleme machst, wenn du mal einen Tag fehlst? Oder wegen Voltaren, weil dich deine Kollegen sonst auf der Karriereschnellspur überholen, du raus bist aus dem Spiel und durch die Putzfrau ersetzt wirst?

Ich weiß, das Werbung nicht zur Werteerziehung sondern zur Umsatzsteigerung da ist. Werte sprechen aber durchaus aus diesen einminütigen Mini-Geschichten. Und da ich weiß, dass Werber und Leute, die Werbung in Auftrag geben, schon viel drüber nachdenken, wen sie ansprechen wollen (im Zweifel möglichst viele), und ihre Werbung häufig sogar an einer Stichprobe ihrer Zielgruppe testen, bevor sie sie schalten, könnte ich zu dem Schluss kommen, das die enthaltenen Aussagen auf eine breite Masse nicht so abstoßend wirken wie auf mich. Sondern ganz selbstverständlich. Oberflächlichkeit ist gut. Ich darf mir keine Schwäche leisten. Mein Leben gehört meinem Arbeitgeber. Ist das wirklich normal?

Neulich gab es einen interessanten Artikel im Guardian, darüber dass heute alle ständig um unsere Aufmerksamkeit kämpfen und wir pausenlos mit Informationen und Botschaften bombardiert werden. So sehr, dass man nicht mehr zum Nachdenken kommt, wenn man mal eine freie Minute hat, sondern sich sofort mit dem nächsten aufmerksamkeisheischenden Ding beschäftigt, weil die, ähnlich wie Lebensmittel mit Zucker und Geschmacksverstärker, darauf optimiert sind, uns süchtig zu machen. Und uns neben dem Hauptnahrungsbestandteil - Aufmerksamkeit für das Produkt - auch allen anderen Mist schlucken zu lassen, der da so drinsteckt.

Ich glaube, ich entwickle gerade eine neue Geschäftsidee: Einen Bioladen für Werbung. Macht wer mit?

11 Januar 2015

Experiment: Resultate

Fünf Tage lang haben wir die Sache jetzt ausprobiert. Fünf Tage lang haben die Kinder bestimmt, was sie mit ihrer Zeit anfangen wollten, ob sie mit uns Abendessen wollten oder nicht, ob sie sich anziehen oder doch die Kälte lieber nackt genießen wollten, und vieles mehr.
Was hat's gebracht?
- Die ersten zwei Tage setzte bei mir tatsächlich etwas Entspannung ein. Was vielleicht hauptsächlich daran lag, dass ich kaum Berührungspunkte mit meinen Kindern hatten, weil die entweder bei der Oma oder vor dem Fernseher (genauer: Laptop mit DVD) waren. Hauptzweck 2 ist damit etwas näher gerückt.
- Das relativierte sich allerdings mit der Zeit, weil dann das schlechte Gewissen einsetzt. Ist es wirklich ok, die Kinder schon vor dem Frühstück zwei Filme anschauen zu lassen? Ist der relative Frieden beim Abendessen es wert, dass dieser mit der Abwesenheit eines Familienmitglieds erkauft wurde, sprich Lenny einfach nicht mitgegessen hat? Kurzfristig gesehen fand ich es für meine Nerven ganz gut. Auf Dauer aber ist das kein Zustand, der mir gefällt.
- Hauptzweck 1, die Reduzierung von Streit, klappte zunächst auch aus oben genanntem Grund: Wenn man weniger Kontakt hat, hat man weniger Gelegenheit zum Streiten. Bei den Dingen allerdings, wo ich nach wie vor Kooperation von meinen Kindern verlangte, gab es nach wie vor unvermindert heftigen Zoff. Hauptsächlich mit Matilda, die ihre ersten zwei Trotzjahre wohl als Übungsphase für dieses dritte vortrefflich genutzt hat, und jetzt weiß, wie man alle meine Knöpfe gleichzeitig drückt. Und offenbar reichte unser Experiment nicht aus, um mir genügend Nerven und Geduld zurückzugeben.

Im Internet, der Quelle aller Weisheit unserer Zeit, bin ich auf eine schlaue Seite mit Tipps zum Thema Trotz und wie man damit umgeht gestoßen. Ich habe sie alle brav studiert und für furchtbar schlau befunden, und mir fest vorgenommen, sie gleich bei der nächsten Gelegenheit auszuprobieren.
Dann bin ich losgegangen, um Matilda von der Oma abzuholen, und habe sie beim ersten Anzeichen eines beginnenden Wutanfalls gleich wieder angebrüllt und mit Gewalt nach Hause geschleift. Fail 1.

Am nächsten Tag wollte ich es nochmal versuchen. Matilda regte sich über Lenny auf, d.h. ich war emotional nicht beteiligt. Also schnell Schritt 1, dem Kind seine Emotionen spiegeln, sowohl mit Worten als vor allem auch mit Körpersprache und Tonfall, auf dass ihm klar wird, es wird gehört und verstanden. Genausogut hätte ich Grillanzünder in einen bereits loderndes Feuer gießen können. Mein Kind explodierte mir ins Gesicht. Fail 2.

Was habe ich also gelernt? Nicht viel unmittelbar Anwendbares. Aber immerhin hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Dass meine Tochter ein unbändiges Selbständigkeitsbedürfnis hat, ist mir schon lange klar. Aber vielleicht habe ich das in der Vergangenheit zu wenig ernst genommen. (Zum Beispiel denke ich, sie hätte viel früher trocken werden können, wenn ich unsere frühen Versuche nicht aus praktischen Gründen immer wieder abgebrochen hätte, weil immer wieder was dazwischen kam, wo's grad unheimlich schlecht passte, dass das Kind ggf. in die Hose pieselt. So hat sie beim letzten Versuch kurz vor Kindergarten letztlich ewig gebraucht, und in Stressphasen klappt's immer noch nicht zuverlässig.)
Außerdem bin ich zu dem Schluss gekommen, dass nicht nur jedes Kind unterschiedlich ist, also auch unterschiedliche Lösungs- und Lernstrategien braucht. Sondern eben auch jeder Erwachsene. D.h. selbst wenn es eine optimale Art gibt, mit einen bestimmten Problem umzugehen, kann ich das nicht immer leisten, und muss eben 'nur' so gut ich kann damit umgehen. Dann dauert's halt länger oder ist anstrengender. Diese Erkenntnis allein hat schon für etwas Entspannung gesorgt.

Wir werden unseren Erziehungsurlaub also beenden, Mediennutzung beschränken (am Wochenende nicht mehr ausschlafen), eine Minimalbekleidung vorschreiben (unsere Tochter mit Gewalt anziehen und Schläge und Tritte in Kauf nehmen), Teilnahme am Essen einfordern (auch wenn das Essen dann alles andere als friedlich ist), und all die anderen anstrengenden Pflichten, die man als Eltern so hat, wieder aufnehmen.
Und versuchen, meinen Kindern mehr zuzutrauen und mehr Selbständigkeit zu ermöglichen (unter der Woche noch früher aufstehen, damit Zeit zum selbst anziehen etc. bleibt). Und einfach hoffen, dass diese Phase dann irgendwann bald zu Ende geht. Bevor meine Nerven endgültig zu Ende gehen.

Zur Ablenkung konzentriere ich mich auf die wahren Erkenntnisse dieses Feldversuchs:

- Dreijährige verbluten nicht, wenn man sie ihre Zehennägel selber schneiden lässt. Sie haben hinterher einfach nach wie vor lange Zehennägel.

- So sieht es aus, wenn ein Fünfjähriger sich sein Pausenbrot selber zubereitet:


- Und nicht zuletzt: Mama als gemeinsamer Feind kann für die Geschwisterbeziehung Wunder wirken: