02 November 2009

Dem Leben (zu) nahe

Wenn man diese Überschrift liest, denkt man vielleicht als erstes, dass ich das Rollenspiel, auf dem wir am Wochenende waren, zu realistisch fand (was nicht der Fall war). Der Titel soll eine Abwandlung von 'dem Tode nahe' sein. Was mich jetzt literarisch völlig disqualifiziert, weil Wortspiele/Anspielungen, die man erst erklären muss, nicht als solche funktionieren. Aber ein Zweck dieses Blos ist ja, dass ihr mich richtig versteht. Oder, aber das sag ich euch nicht, dass ich mich selbst richtig verstehe.
Und momentan gelingt mir das nicht recht, also schreibe ich jetzt so lange drauflos, bis ich mir klarer werde.
Am Samstag haben wir (am Rande des Rollenspiels) in einem hohlen Baum drei winzige Katzenjunge entdeckt. Da war's schon recht kalt, aber sie wuselten noch ganz munter in ihrer Höhle rum, so dass ich, vernünftiger, kindchenschema-resistenter Mensch, der ich bin, mir dachte, die Natur wird schon wissen, was sie tut, lassen wir sie einfach mal in Ruhe, Katzenmutter ist sicher bald wieder da.
Am Sonntag morgen machte mich eine Mitspielerin (nur Zufall, dass es sich ebenfalls um eine Schwangere handelt?) darauf aufmerksam, dass eins der Kleinen fehlte und die Katzen nicht mehr wirklich fit wirkten. In der Nacht hatte es immerhin -5 Grad gehabt. Von der Katzenmamma offenbar keine Spur. Also schauen wir halt mal hin. Wenn ein anderer einen auffordert, hat man ja quasi eine Ausrede, seinen unangebrachten Fremdspeziesmuttergefühlen nachzugeben.
Die zwei Kätzchen liegen leblos in ihrer Höhle. Der eine sieht schon ganz steif aus, das Fell ist verklebt, als ich ihn rausnehmen will, ist er ganz kalt. Ich hab schon geholfen, tote Menschen rumzuheben, aber tote Tierbabys sind dann doch irgendwie zu viel. Ich versuche, das tote Kätzchen mit einem Stock beiseite zu schieben, um an sein kläglich maunzendes Geschwisterchen ranzukommen. Da gibt es dann doch tatsächlich noch ein Geräusch von sich. Also schnappen wir uns die zwei und tragen sie so schnell wie möglich rein ans warme Feuer.
Und dann sitzen wir da und versuchen, die Kleinen wieder ins Leben zurückzuholen. Einer macht ab und zu die Augen auf und maunzt. Der andere liegt nur da und ist kalt. So kalt, dass seine Flöhe die Wärme meiner Haut vorziehen und fluchtartig den Wirt wechseln. Ich schere mich nicht darum, denn die Situation ist mir schon unter die Haut gekrochen. Ich sitze da und halte zwei Wesen im Arm, eines krallt sich am Leben fest, das andere wartet reglos auf den Tod, und ich bin genauso hilflos wie die beiden, kann nichts tun außer warm sein und von ganzem Herzen hoffen. Kann ich? Wann habe ich zuletzt etwas von ganzem Herzen getan?
Zu lange her und viel zu gefährlich. Also sitze ich nur da und bin warm. Und erleichtert, als der Aktivere von beiden sich endlich mit einer Spritze voller Sahne-Wasser-Gemisch füttern lässt. Auf mir rumkrabbelt und nach mehr schreit und mich voller Begeisterung in Handflächen, Hals und Ohr beißt. Er hat's geschafft. Der andere liegt immer noch da und atmet flach und ist kalt.
Wo der dritte wohl ist? Wir haben ihn in der Umgebung der Höhle gesucht, aber nicht gefunden. Wenn er nur rausgekrabbelt wäre, hätte er es in der Kälte wohl nicht lange gemacht und wäre irgendwo in der Nähe gestorben. Vielleicht hat ihn ein anderes Tier gefressen? Oder die Mutter hat versucht, wenigstens eines ihrer Jungen ins Warme zu bringen? Ich versuche, mich von dieser albernen Hoffnung abzubringen, indem ich mir vor Augen halte, dass zu dieser Jahreszeit kein vernünftiger Mensch irgendwo eine Tür oder ein Fenster offenstehen lässt, und dass andere warme Orte als Häuser in dieser Gegend wohl nicht verfügbar sind.
Statt dessen massiere ich dem schwächeren der beiden Überlebenden lieber die Pfötchen und Ohren, um die Durchblutung anzuregen. Und endlich, nach über einer Stunde, reagiert auch er mit Schluckbewegungen auf unsere Spritzenfütterung, anstatt alles einfach wieder aus dem Mäulchen herauslaufen zu lassen. Öffnet Minuten später die Augen und krächzt kläglich nach Nachschub.
Und schließlich schlafen sie beide erschöpft und warm auf meinem Bauch und ich weiß, dass das Schlimmste überstanden ist.
Ist es?
Klar, die beiden Kätzchen werden überleben, wenn sie nicht noch an etwas anderem als Unterernährung und Unterkühlung leiden.
Und ich?
Die Zeit meiner eigenen emotionalen Unterernährung und Unterkühlung scheint überwunden. Aber in dieser Situation, wo alles auf einige wenige, essentielle Fragen reduziert wird - warm oder kalt, fressen oder nicht, Leben oder Tod - wird mir bewusst, dass ein sehr großer, sehr dominanter Teil von mir damals, als ich hungerte und fror, beschlossen hat, mich nie wieder Hunger und Kälte spüren zu lassen. Die entsprechenden Sensoren abgeschaltet hat. Mit allen Konsequenzen und Nebenwirkungen. Ohne Kälte kein Aufwärmen, ohne Hunger kein Durst nach Leben. Locked-out-Syndrom - alles funktioniert an der Oberfläche noch, nur innerlich nicht mehr, das dafür aber bei vollem Bewusstsein.
Und jetzt sitze ich hier an der Grenze zwischen Leben und Tod, und auch wenn es nur zwei kleine Kätzchen sind, kann ich nicht anders als bewegt sein und mit-fühlen.
Und kann es doch nicht. Weil es nicht zu ertragen ist. Selbst als klar wird, dass die beiden überleben, ist das Potential an möglichen Gefühlen, das da draußen lauert, zu beängstigend, als dass ich ihnen die Tür öffnen könnte. So sehr ich es auch will.
Also setze ich die Kätzchen irgendwann in eine Kiste, überlasse sie anderen fähigen Händen und versuche, nicht mehr an sie zu denken, auch wenn sie und dieses Un-Gefühl mich nicht loslassen. Und frage mich, wo ich die nächste Nahtoderfahrung herbekomme, um diese Übung, vielleicht etwas erfolgreicher, wiederholen zu können.

P.S. Wenn jetzt irgendwer schreibt 'Wenn das Kind erstmal da ist, wird das schon', bewerfe ich ihn mit toter Katze (von der wir, wie hinlänglich bekannt ist, noch einen Vorrat im Schrank haben).

4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Hm, vielleicht könntest Du Dich in eine Situation in deinem Leben zurückversetzen, als du etwas ganz intensiv und positiv gefühlt hast?

Dich in "Trance" versetzen ...tiefer und noch tiefer zurück gehen in der Zeit, bis du dich wieder in dieser Gefühlslage befindest...noch bevor du dich abgetrennt hattest? Das Bild vielleicht noch heller werden lassen, klarer..., was siehst du..?, gibt es etwas zu hören...?



Nur so eine Idee.

Lieber Gruss!
Sandra

naiko hat gesagt…

ich habe das gefühl, dass du nur in sehr drastischen situationen daran erinnert wirst, dass du potential hast, sehr starke gefühle zu haben. und wenn das passiert, überfällt und erschreckt dich das, da du ja jahrelang "dran gearbeitet" hast, diese zu unterdrücken, weil sie dir angst gemacht haben und immer noch angst machen. hab ich das richtig verstanden?
andererseits fehlen sie dir natürlich!
abgesehen davon, dass du solche situationen wie jene mit den katzen kaum vermeiden kannst - sowas kommt,wenn es kommt - denke ich, dass es besser für dich wäre, du würdest mit weniger drastischen emotionen üben. warum nicht ganz vorsichtig an der oberfläche anfangen? der sonne auf der haut nachfühlen? einen wirklich traurigen film anschauen und versuchen, das weinen zuzulassen? notfalls allein? dann denkt man weniger drüber nach. eine geschichte lesen, die dir früher nahe gegangen ist, und nach dem gefühl suchen?
ich persönlich hätte vielleicht angst, mich gleich zu sehr in die tiefe zu begeben. da könnte ich nicht loslassen, das wäre wie ins meer springen, wenn man befürchtet, nicht mehr und nicht gut genug schwimmen zu können.
ich würde mit nackten füßen über moos laufen, bis zu den knöcheln ins meer gehen, einen eiswürfel oder was furchtbar scharfes essen, musik hören, die weh tut (die kann man abstellen)...
ich weiß nicht, ob das ein weg für dich wäre. ich bin halt kein springer, ich bin ein taster und schieber. ich schiebe meine grenzen vor mir her, ich überspringe sie nicht - man weiß ja nie, was auf der anderen seite ist.
und ich bin damit ganz erfolgreich, finde ich, mein horizont erweitert sich auch. nach innen und nach außen.
und wenn du dafür eine begleitende hand brauchst, bin ich da, ok?!

Anke hat gesagt…

Hm, tja... manchmal gibt es so Situationen, die einem zeigen, wo man in einer bestimmten Sache steht.

Andererseits. Vielleicht hättest du bei den Kätzchen auch "früher" nicht anders gefühlt: zuerst waren da zwei Katzen zu retten, da ist kein Platz für Rumheulen. Wenn Sanitäter jedesmal tieftraurig würden, wenn sie einen übel Verletzten sehen, das passiert ja auch nicht.
Dann waren sie über den Berg, dann braucht man erst recht nicht rumheulen; aber vielleicht auch keine Freundensprünge machen, weil dann das prävalente Gefühl -denke ich- doch eher Erleichterung ist: "Uffz, sie haben's geschafft".
Könnte das der Fall sein? Dass du hier deswegen nicht wie von dir ("mit dem Verstand") erwartet, gefühlt hast?
weil Dein Verstand dir sagt "oh die armen süssen Kätzchen, jwetzt müsste ich doch tieftraurig (bzw überglücklich) sein - aber das eine falsche Erwartung ist?

Also, ich könnte mir vorstellen, dass ich so fühlen würde. Das ist wie beim Feueralarm - wenn der Verstand/Gefühl auf einmal auf "jetzt praktisch denken weil Notlage" umschaltet. Und ich nicht in Panik verfalle, sondern mit äusserster Konzentration kucke, ob alle anderen aus dem Gebäude kommen und nochdazu ich mich dabei selbst nicht Gefahr bringe? Wie sehr vom Verstand "erwartet" ist so eine Reaktion?
You know what I mean?

Leo und Tanja hat gesagt…

Ihr habt alle drei recht.
Die "Trance", das Sich-in-sich-selbst-verlieren, ist das was ich suche. Aber ich habe keine Ahnung, wie ich das erreichen soll. Mich an positive Situationen hat genau den gegenteiligen Effekt: Die Erinnerung löst nicht das gewünschte Gefühl aus und deprimiert mich dadurch nur umso mehr. Ich trau mich schon gar nicht mehr, mich an schöne Sachen zu erinnern, aus Angst, diese Erinnerungen zu verderben oder zu entwerten.
Wahrscheinlich muss ich tatsächlich in kleinen Schritten anfangen. Manchmal, in ganz banalen Situationen, wenn ich nicht nachdenke und nicht drauf gefasst bin, und vor allem nichts erwarte, dann kommt das Gefühl - das intensive, echte - zurück. Aber das ist nicht steuer- oder übbar. Und das ist frustran, denn ich warte schon ziemlich lange darauf, kann aber scheinbar nichts tun, um die Sache zu beschleunigen.
Anke hat wohl recht, vielleicht erwarte ich tatsächlich zu viel von mir.
Mein schlauer Therapeut sieht das ganze so: Aus Angst vor Verletzung habe ich sozusagen auf Sparflamme gedreht. D.h. ich reagierte auf den Stress und die Angriffe aus meiner Umwelt, indem ich die Wirkung, die schmerzhaften Gefühle, die das auslöste (und damit leider auch alle anderen), einfach abgeschaltet habe. Anstatt mich gegen die Ursache zu wehren. Also muss ich wohl irgendwie lernen, mich gegen Negatives von außen zur Wehr zu setzen, sozusagen eine Armee aufbauen, die mein Innenleben beschützt, damit sich das entsprechend erholen kann. Jetzt brauche ich nur noch einen mentalen Karate-Trainer, und (am Anfang möglichst harmlose) Sparrings-Partner. Und, ich fürchte, weiter einfach viel Geduld...
Und natürlich eure Unterstützung.
Danke dafür.