Seit Montag bin ich endgültig unter die Gutmenschen
gegangen: Einmal pro Woche gebe ich ab sofort ein paar Flüchtlingskinder
Sprachunterricht. Und werde versuchen, hier regelmäßig darüber zu berichten.
Vor dem ersten Mal war ich einigermaßen aufgeregt.
Sprachunterricht ist mir vertraut, aber eben nur in der Eigenschaft als
Schüler. Die eigene Sprache, die man als Kind ja völlig ohne theoretischen
Unterbau erworben hat, jemandem beizubringen, mit dem man ggf. nur mit Händen
und Füßen kommunizieren kann, scheint mir eigentlich schon schwierig genug, so dass
ich dafür gern etwas extra Vorbereitung hätte (vorzugsweise ein DaF-Studium,
wenigstens in Kurzform). Ist aber wohl nicht drin. Also muss man sich halt mit
dem bisschen gesunden Menschenverstand, über den man verfügt, sowie möglichst
viel Einfühlungsvermögen begnügen, und das Beste draus machen. Mein Fazit nach
den ersten zwei Stunden: Das wird nicht leicht.
Aus einer von zwei Klassen mit je ca. 25 Kindern zwischen
(geschätzt) 14 und 17 Jahren unterstütze ich diejenigen, die noch gar nicht
oder sehr wenig lesen und schreiben können. Das ganze parallel zum Unterricht,
in einem ca. 2 qm großen Garderobenraum mit einem Tisch und ein paar Stühlen
drin. Dazu ein paar Arbeitsblätter und Stifte. Sonst nix. Die erste Stunde sind
zwei Mädchen dran, die zweite drei Jungs. Ich weiß nichts über die Kinder, und
soll sie auch möglichst nichts fragen – alle sind unbegleitet, keiner weiß, was
mit den Eltern ist, Retraumatisierung ist unbedingt zu vermeiden. Die
einfachsten Wörter, die man schon mit zwei Buchstaben schreiben könnte, fallen
damit aus: Mama und Papa.
Als ich in die Klasse komme (zu spät, denn unsere Schulen
werden nach Unterrichtsbeginn heutzutage offenbar alle abgesperrt, was nichts
mit den Flüchtlingen, sondern mit der allgemeinen Unsicherheit unserer Straßen
zu tun hat, werden ja dauernd Kinder aus der Schule entführt – oder?), werde
ich von den Jugendlichen fröhlich mit „Guten Morgen, Frau Braun“ begrüßt,
einige grinsen, andere blödeln, manche schreiben schon – scheinbar ganz
normaler Schulalltag, nur mit insgesamt etwas dunklerem Hautton. Die Lehrerin
stellt mich kurz vor, drückt mir Arbeitsblätter und zwei Kinder in die Hand und
wirft uns zu dritt ins kalte Wasser.
Die Mädchen sitzen in dem beheizten Zimmer mit Mütze
respektive Kopftuch und scheinen trotz warmer Kleidung zu frieren. Beide
sprechen ein paar Worte Englisch und ebenso wenige Deutsch. Die eine kämpft mit
jedem einzelnen Buchstaben. Die andere schreibt mir nach ein paar Minuten das
ganze Alphabet hin und fragt, ob sie jetzt wieder in den richtigen Unterricht
darf. Offenbar ist die Information der Lehrerin nicht ganz richtig. Bei 25
Kindern hat sie wahrscheinlich auch nicht die Zeit, das vorhandene Wissen bei
jedem einzeln abzuprüfen. Prompt will die Lehrerin sie wieder rauswerfen, bis
sie spontan die Worte an der Tafel vorliest, und uns aufmalt, was sie nicht
kann: 3 + 3. Memo an mich: Für nächstes Mal Mathe vorbereiten.
Nach der Pause sind die Jungs dran. Keine Ahnung, ob die
Geschlechtertrennung beabsichtigt ist. Generell habe ich zu wenig Info: Wo die
Kinder herkommen, welche Sprache sie sprechen, welchen kulturellen/religiösen
Hintergrund sie haben, wo sie wohnen (hier am Ort gibt es insgesamt nur ca. 70
Flüchtlinge, davon wird nicht über zwei Drittel aus unbegleiteten Jugendlichen
bestehen), was sie mit dem Rest des Tages machen. Im Internet findet sich kaum
etwas darüber, wie man mit den sogenannten umF, unbegleiteten minderjährigen
Flüchtlingen umgeht. Und obwohl einiges an kostenlosem Unterrichtsmaterial vorhanden
ist, findet sich fast nichts zur Alphabetisierung. Ich male dem Mädchen, das
besonders mit dem i zu kämpfen hat, einen Igel auf. Sie erkennt das Tier nicht.
Was durchaus an meiner Zeichnung liegen könnte. Aber gibt es in Nigeria
überhaupt Igel? Selbst wenn, haben die dort bestimmt einen Namen, der nicht mit
i beginnt. Wo fängt man da an?
Die Jungs sind lebhafter als die Mädchen, aber auch sie malen brav die
Buchstaben ab. Bis sich herausstellt, dass auch sie das Alphabet schon
größtenteils können. Nur einer sitzt still da, beschattet die Augen mit der
Hand und scheint sich unwohl zu fühlen. Ich versuche, ihn zu motivieren, ohne
zu drängen, während der andere seinen Bleistiftspitzer mit brutaler Gewalt,
aber in aller Seelenruhe auseinandernimmt, um den Stift dann nur mithilfe der
Klinge zu spitzen. (Später stellt sich heraus, dass der Spitzer einer
Mitschülerin gehörte!) Der Tisch ist voller Plastiksplitter, Bleistiftspäne und
vollgeschriebener Arbeitsblätter, der Gong lässt auf sich warten, und ich weiß
nicht, was ich mit den Jungs noch anfangen soll. Sie erzählen mir, dass sie
alle nicht in der Schule waren, das Alphabet selbständig gelernt haben. Einer
malt mir die Buchstaben nochmal in seiner Sprache auf. Was spricht man
eigentlich in Afghanistan? Ich überlege, was ich fragen darf und was zu heikel
ist. Der Gong kommt immer noch nicht. Ich schaue auf meine Handyuhr, und die
Jungs erhaschen einen Blick auf das Foto von Lenny, das mir als
Bildschirmhintergrund dient. Ich sage, das ist mein Sohn, und zeige noch ein
Bild von Matilda. Sie wollen wissen, was Vater und Mutter auf Deutsch heißt.
Beide deuten auf sich. „Zu Hause kein Vater, kein Mutter.“ Der dritte malt
immer noch stumm und verbissen die Buchstaben ab. Wie reagiert man auf sowas?
Natürlich sind Offenheit und eine ehrliche Reaktion eigentlich immer das Beste.
Aber inwieweit trage ich zur Retraumatisierung bei, wenn ich ihnen zeige, wie
sehr es mir das Herz zerreißt? „Es tut mir so leid“, sage ich. Worthülsen im
Angesicht eines unvorstellbaren Dramas, das für diese Kinder doch Alltag ist.
„Aber jetzt, in Deutschland, gut mit Betreuer“, fahren sie unbekümmert fort.
Können die Betreuer vom Jugendamt, die sich – im Schichtsystem wechselnd – um
mehrere Jugendliche gleichzeitig kümmern, die verlorenen Eltern ersetzen?
Schwer vorstellbar. Aber hier sitzen sie, lümmeln sich auf den Stühlen, unterhalten
sich nebenher und benehmen sich wie ganz normale Schüler. Und das ist
vielleicht das einzig Richtige: Alltag und Normalität.
Die Lehrerin steckt den Kopf ins Zimmer. Ich habe meine Zeit
um eine halbe Stunde überzogen. Nein, hier gibt es keinen Gong zwischen den
Stunden, nur zur Pause. Ich lasse die Jungs ihr letztes Arbeitsblatt
fertigmachen und schicke sie wieder in die Klasse. „Auf Wiedersehen, Frau
Braun“, verabschieden mich alle Kinder im Chor.
Ich fühle mich erschöpft. Unterricht in Kleingruppen ist sehr konzentrationsintensiv. Die Aufgabe ist auf der einen Seite nicht anspruchsvoll, auf der anderen Seite fühle ich mich überfordert, da ich weder weiß, wie ich richtig vorgehen soll, noch was die Lehrerin sich für Ergebnisse von meinem Unterricht erhofft. Das nächste Mal werde ich wohl ein paar eigene Materialien als Ergänzung mitbringen. Und mich darauf verlassen, dass ich den Kindern das Wichtigste schon gesagt habe, und es trotzdem in jeder einzelnen Stunde wiederholen, bis sie es glauben: Wir schaffen das. Du schaffst das.
1 Kommentar:
ich stelle es mir sehr schwer vor, aber ich glaube trotzdem, dass das allerwichtigste eine möglichst unbekümmerte normalität ist. herauforderungen, auch forderungen, die die jugendlichen bewältigen können, wenn sie wollen und sich ein bisschen bemühen. lob. motivation. du schaffst das. aber auch einmal ein "ich will, dass du...". und interesse. lass sie erzählen. vom alltag. hier oder - wenn sie von selbst damit anfangen - von zuhause.
der alltag hier ist doch ein gutes thema: was machen sie, wenn sie nicht in der schule sitzen? ein ziemlich neutrales thema, und normal. wofür interessieren sie sich? ich wette, da fällt fußball bei den jungs. bei den mädchen? wer weiß, je nach den möglichkeiten und dem medienzugang, den sie hier haben... all das, was "unsere" mädels in dem alter auch umtreibt.
gibt ihnen die möglichkeit, fragen zu stellen. antworte einfach.
kinder sind stark. und ich glaube, wenn sie spüren, dass man das weiß, dann macht es sie stärker, ohne dass es sie überfordert.
dein "du schaffst das!" - ja, das ist bestimmt das allerwichtigste! :-)
und übrigens: DU schaffst das!
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