18 Februar 2016

Seesterne werfen

Diese Woche hatte das Helfen ein bisschen was von der Dramatik, die man sich von Ferne vielleicht vorstellt. Wie ihr ja hier schon lesen konntet, verläuft mein bisschen Unterricht bisher eher unspektakulär. Mit den Kindern über ihre persönlichen Schicksale zu sprechen, ist uns untersagt, alle für unbegleitete Minderjährige kritischen Themen wie Familie sollen wir tunlichst vermeiden. Und ohnehin ist die Kommunikation nicht leicht, weil ich meistens die kriege, die die meiste Unterstützung brauchen, sprich noch nicht wirklich kommunizieren können.

Aber Tränen sind eine universelle Sprache. Völlig unvermittelt begann eine meiner Somalierinnen zu weinen, als wir gerade das Adjektiv „klug“ steigerten. Ich denke nicht, dass das der Auslöser war. Allerdings könnte ich es nicht genau sagen, denn siehe oben: Unter normalen Umständen können wir uns über halbwegs konkrete Dinge mit viel Händen und Füßen einigermaßen verständigen. Unter Tränen und emotionalem Stress über so abstrakte Dinge wie Gefühle und Ängste? Nahezu unmöglich. Immerhin war ihre Landsmännin (Landsfrau?), die zukünftige Krankenschwester, anwesend und dolmetschte ein wenig. Der Betreuer in ihrer Unterkunft ist „nicht gut“. Was immer das heißen mag. „Mama und Papa sind nicht hier.“ Immer wieder deutete sie auf ihren Kopf, dort liege das Problem. Verständlich, dass sie nach allem, was sie erlebt haben muss, psychische Probleme hat. Aber finde mal einen auf traumatisierte Jugendliche spezialisierten Psychiater, der kurzfristig einen Termin frei hat – und Somali spricht!

Die Vorstellung, es endlich in ein sicheres Land zu schaffen, und dann in einer Blase der Einsamkeit gefangen zu sein, mangels Sprachkenntnis dazu verurteilt, über das zu schweigen, was einen innerlich auffrisst, ist kommt meiner Idee einer kafkaesken Hölle schon ziemlich nahe.

Was also tun? Weiter Adjektive steigern kommt erstmal nicht in Frage. Ich würde das Mädchen gern in den Arm nehmen, aber ich bin mir nicht sicher, inwieweit Körperlichkeiten für sie (kulturell und anderweitig) akzeptabel sind, also lege ich ihr nur tröstend die Hand auf den Arm und versuche, meine eigenen Tränen herunterzuschlucken. Sage ihr, dass ich gern helfen möchte, aber nicht weiß, wie. Ihre Mitschülerin erklärt, dass sie nachts im Dunkeln Angst hat – wobei ihr Gesichtsausdruck, mit dem sie Angst pantomimisch darstellt, eigentlich nur mit „nackter Terror“ beschrieben werden kann – aber kein Licht anmachen darf, weil die anderen sonst nicht schlafen können. Ich verspreche, ihr das nächste Mal eine LED-Kerze für unter die Bettdecke mitzubringen. Immer noch laufen ihr die Tränen übers Gesicht, und sie gibt dabei kein einziges Geräusch von sich. Nichtmal ihre Schultern zucken. Irgendwo habe ich kürzlich gelesen, dass Flüchtlingskinder gelernt haben, sich unsichtbar zu machen und nicht aufzufallen, und sich erst wieder daran gewöhnen müssen, dass sie es einfordern dürfen, wahrgenommen zu werden. Den Kontext, die Gründe, warum dieses Unsichtbarwerden nötig war, will ich mir erst gar nicht vorstellen.

Ich rede gegen meine eigene Hilflosigkeit an. Finde eine sehr wichtige Anwendung für Adjektiv-Steigerungen, konkret den Superlativ von mutig: „Ihr seid die mutigsten Menschen, die ich kenne. Ihr habt Dinge erlebt, die ich mir nicht mal vorstellen kann, und habt es hierher geschafft. Ihr seid Helden.“

„Was ist mutig?“, fragt die Mitschülerin der Weinenden. „Was ist Held?“ Mit Pantomime komme ich hier nicht weit. „Mutig ist, wenn man keine Angst hat. Und ein Held …“ Ich überlege, ob ich Beispiele wie Superman anbringen soll. Aber das ist das falsche Bild. Mir fällt ein Zitat aus einem Online-Comic ein: 'I am a superhero because I have superpowers. They are superheros because they do not.'  „Ein Held ist man, wenn man Angst vor etwas hat, es aber trotzdem tut“, versuche ich zu erklären.

Viel mehr kann ich nicht für sie tun. Oder? Oder? Wenn ich mich einmische, überschreite ich die Grenzen meines ‚Reviers‘ als freiwilliger Helfer. Hier müssen eindeutig die Profis ran. Oder? Meine Lehrerin schaut mich fragend an, als ich ihr ihre noch nicht wieder ganz gefasste Schülerin zurückbringe. Ich erkläre ihr, was passiert ist, und spreche die „nicht gute“ Betreuungssituation im Heim an. Die ist ihr wohl bekannt, aber mehr sagt sie nicht dazu. Als ich versuche, mit ihre zu besprechen, wie man dem Mädchen helfen könnte, kündigt sie mir statt dessen an, als nächstes hätte sie eine anspruchsvolle Aufgabe für mich.

Als nächstes? Eigentlich fand ich das gerade schon mehr als anspruchsvoll. Insofern ist es quasi Erholung, mit den Jungs aus Afghanistan Landeskunde zu üben und ihnen Angelina Merkel (Bilder in meinem Kopf!!!) und den Unterschied zwischen Mindestwahlalter und kommunalen Wahlperioden (nein, wir wählen den Stadtrat nicht nur alle 18 Jahre neu, auch wenn es sich so anfühlt) näherzubringen. Wir haben unseren Spaß.

Trotzdem lässt mich die Szene von vorhin nicht los. Die Unterkunft der Mädchen liegt im Nachbarort, d.h. unser Rathaus – das auf mich einen extrem engagierten und hilfsbereiten Eindruck macht – ist nicht zuständig, ebensowenig der Helferkreis, den ich kenne. Wenn ich jetzt also in der Nachbargemeinde anrufe und nachfrage, ist das, wie man auf gut bayrisch sagt, nicht furchtbar gschaftlhuberisch (Hochdeutsche Annährung: wichtigtuerisch)? So richtig geht’s mich ja nichts an, und viel kann ich ohnehin nicht an ihrer Situation ändern. Oder?

Ich muss an ein anderes Kind denken, das ich vor knapp 2 Jahren kennenlernte (außerhalb meines eigenen sozialen Umfelds, also garantiert niemand, den ihr kennt). Ich hatte den Verdacht, dass es misshandelt wurde, und schaltete das Jugendamt ein. Und dachte, ich hätte damit meine Schuldigkeit getan. Doch das Kind sah von Woche zu Woche schlimmer aus und es schien nichts zu passieren. Aber die Zuständigen wussten schließlich Bescheid. Der Rest war nicht meine Sache. Oder? Mehr als anrufen konnte ich doch schlecht tun. Oder? So dachte ich. Bis ich es nicht mehr aushielt und in einem Anfall von wütendem Aktionismus die Polizei einschaltete, mehreren Jugendamtsmitarbeitern auf den AB sprach und eine sehr emotionale E-mail schickte. Dann erst wurde dem Kind endlich, endlich geholfen.

Die Moral von der Geschichte? Es mag nicht in meine Zuständigkeit fallen. Es mag sein, dass ich nicht viel erreichen kann. Es könnte sein, dass ich mich wichtigmachen muss, was mir tendenziell unangenehm ist. Und ja, mir ist klar, ich kann nicht die ganze Welt retten. Aber manchmal lohnt es sich, ein kleines bisschen mehr zu tun als nur das Nötigste. Auch für eine einzelne Person. Oder vielleicht gerade für eine Einzelne. Schon allein wegen der Geschichte mit den Seesternen.

05 Februar 2016

Seinen Namen für die Integration hergeben

Nach einer Woche Pause war ich diese Woche wieder an meiner Schule. Dort gibt es jetzt drei statt bisher zwei Ü-Klassen, und die Einteilung erfolgt nicht mehr nach Alter, sondern nach Kenntnissen der Schüler. Meine ABC-Schützen werden jetzt also gezielt den ganzen Vormittag alphabetisiert, und müssen nicht mehr mühsam mit dem Unterricht der Lesenden mithalten. Das bedeutet für mich, dass sich meine Aufgaben ändern. Wie genau, ist noch nicht so ganz raus. Diese Woche habe ich mit zwei Somalierinnen gearbeitet, die schon ganz gut lesen und schreiben können und voll motiviert sind.

Das Thema lautete „beim Arzt“, und die erste meiner Schülerinnen erzählte mir gleich begeistert, dass sie Krankenschwester werden will. Kurz musste ich gegen die Versuchung kämpfen, ihr statt grundlegender Gesundheitsvokabeln etwas über Gewerkschaften, schlechte Bezahlung und Arbeitskampf zu erzählen. Dann haben wir uns aber doch auf die Silbentrennung konzentriert. Silbentrennung? Braucht man das heute noch? Ich jedenfalls nicht, nichtmal im Ansatz, obwohl Worte mein Beruf sind. Prompt ließ mich mein Schulwissen im Stich. ST tut es mittlerweile nicht mehr weh, getrennt zu werden, soviel wusste ich noch. Aber heißt es Ta-blet-te oder Tab-le-tte? Und nochmal: Ist das wichtig? Macht nix, wir arbeiten uns 45 Minuten lang durch die Wörter und haben unseren Spaß.

Mit der zweiten Schülerin, einer zukünftigen IT-Spezialistin, darf ich das machen, was ich am besten kann: ein Rollenspiel. Ich bin der Arzt, sie die Patientin, die mir in ganzen Sätzen ihre Beschwerden schildern soll. Sie lacht viel, während mir Zahnweh vorspielt, sich von mir mit dem Bohrer traktieren lässt und schließlich in der Apotheke mit meinem Rezept noch ein Schmerzmittel abholt. Ein paar Wörter zeige ich ihr mithilfe meines Bildwörterbuchs (ich mache hier schamlos Werbung, weil der Verlag es mir netterweise umsonst zugeschickt hat und ich es wirklich hilfreich finde). Als sie dort das Bild einer Spritze entdeckt, deutet sie einigermaßen entsetzt darauf und erzählt, dass sie in Deutschland lange im Krankenhaus war, weil sie Herzprobleme hatte. Sie zeigt mir, wo überall Nadeln in sie reingesteckt wurden. Auf dem Handrücken hat sie eine große Narbe. Sowas kommt nicht von einer Infusion, es sieht eher aus wie eine Brandnarbe oder Verätzung. Ich muss schlucken, kann aber nicht weiter darüber nachdenken, weil sie weitererzählt: Wenn sie jetzt krank wird, sagt sie es ihrem Betreuer nicht, weil sie nicht mehr zum Arzt will. Hier ist viel mehr nötig als Vokabeln. Aber um verlorenes Vertrauen wiederzuherstellen, kann man in 45 Minuten nicht viel tun. Wieder bin ich ein verschwindend kleiner Tropfen auf einen viel zu heißen Stein.

Immerhin bin ich jetzt nicht mehr eine von zwei Helferinnen, sondern eine unter vielen. Letzte Woche gab es ein großes Treffen der verschiedenen Helferkreise hier im Ort, die beschlossen haben zu fusionieren, oder sich zumindest besser zu koordinieren. Bürgermeister, Landratsamt und Lokalpresse sind ebenfalls anwesend und versorgen uns mit Infos. Es scheint, dass unsere Kommunalbehörden ihre Hausaufgaben gemacht haben. Genug Wohnraum ist vorhanden, zusätzlicher wird im Eiltempo (und energieneutraler Holzbauweise) gebaut, im Rathaus wurden neue Stellen geschaffen bzw. umdefiniert, und es gibt eine überregionale Koordination sowohl für die offiziell zuständigen Behörden als auch für die freiwilligen Helferkreise. Auf dem Treffen konnten sich letztere besser strukturieren und Arbeitsgruppen mit festen Zuständigkeiten bilden. Sehr deutsch, ein bisschen McKinsey (= mein Schmähwort für zu viel PowerPoint-Speak) und irgendwie trotzdem immens motivierend. Hab mich hinreißen lassen, meine Mitarbeit an der Helferkreis-Webseite anzubieten. Aber Texte schreiben kann ich ja immer irgendwie zwischenreinquetschen, und alles, was veröffentlicht wird, kann ich zudem auch als Referenz für meine Übersetzertätigkeit verwenden.

Die Schule hat das Treffen genutzt, um weitere Helfer für den Sprachunterricht anzuwerben. Dafür haben sich erstaunlich viele ausländische Studenten gemeldet, was ich aber sehr sinnvoll finde, denn die sind mit den Hürden des Deutschlernens und der Theorie der Grammatik sicherlich viel vertrauter als wir Muttersprachler. Und vielleicht kann man sich auch mal zusammentun und mit den Kids abseits des Unterrichts gemeinsam was machen.

Halse ich mir gerade zu viel Arbeit auf? Gut möglich. Aber obwohl das Ergebnis meiner Arbeit sehr unspektakulär bis unsichtbar ist, fühlt es sich so an, als würde ich (abgesehen von meiner Arbeit als Mutter) endlich mal etwas wirklich Sinnvolles und Wichtiges tun. Da reicht es völlig, wenn meine stets missgelaunte Nigerianerin sich nach dem Unterricht mit einem lapidaren „Today gut!“ von mir verabschiedet, und ich habe den ganzen Tag gute Laune.

Bin ich zu anspruchslos? Ich glaube, Menschen gegenüber, die alles Vertraute aufgegeben oder verloren haben, sollte man mit Ansprüchen eher zurückhaltend sein. Das Leben verlangt ihnen so viel mehr ab, als wir, die wir in Frieden und Wohlstand aufgewachsen sind, es jemals ermessen können. Sie müssen sich so anstrengen, um einen Bruchteil von dem zu erreichen, was für uns selbstverständlich ist.

Als meine angehende Krankenschwester mir ihren Namen sagt, schreibt sie ihn mir zur Sicherheit gleich auf. Sie ist es gewohnt, falsch ausgesprochen zu werden. Eigentlich, sagt sie, beginnt ihr Name nicht mit Ka, so wie sie es geschrieben hat, sondern mit Kha, was wie ein kehliges Cha ausgesprochen wird. „Aber das kann hier keiner sagen, also habe ich meinen Namen geändert“, lächelt sie. Einfach so. Keine große Sache, oder?. Jugendlich verpassen sich selbst und anderen doch sowieso andauernd irgendwelche Spitznamen, die mit ihren eigenen Namen nicht viel zu tun haben. Teil der Abkapselung vom Elternhaus und Identitätsfindung. Was aber, wenn der eigene Name eines der wenigen Dinge ist, die einen mit seiner Herkunft verbinden? Müsste man sich, allein* in einer völlig fremden Gesellschaft, nicht mit aller Macht wenigstens daran festhalten? Und da sitzt dieses junge Mädchen und gibt fröhlich auch diesen Teil ihrer Identität auf, um es uns einfacher zu machen, sie zu integrieren. Ich verlasse den Unterricht mit dem Vorsatz, mir möglichst schnell in allen relevanten Sprachen den Satz „Du bist ein Held“ anzueignen.


*Meine Schüler sind alle unbegleitet, d.h. ihre Familie ist noch im Heimatland… oder gar nicht mehr da.