15 Dezember 2015

26 bunte Buchstaben und 22 Liter Wasser

Als ich gestern vor der Klasse auf die Lehrerin wartete, kam einer der Schüler, die schon besser Deutsch können, mit seinem Arbeitsblatt zu mir und deutete auf einen Satz. „Eine Spülmaschine verbraucht durchschnittlich 22 Liter Wasser pro Spülgang.“ Er sah mich fragend an. „22 Liter? Richtig?“ Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung. Genausowenig, wie ich weiß, wieviel Wasser man in von Dürre bedrohten Gebieten so durchschnittlich pro Tag zur Verfügung hat? Wie lange kann man mit 22 Litern überleben? Zwei Wochen? Länger? Ich fühle mich beschämt. We are poor because you are rich.* Genauso unvorstellbar wie das Leid der Flüchtlinge ist, wie gut es uns im Kontrast zu fast dem ganzen Rest der Welt geht. Aber vielleicht will der Schüler auch nur wissen, ob er die Aufgabe richtig gerechnet hat? „Ja“, sage ich, „stimmt. Ganz schön viel, oder?“ Ich glaube, er versteht meine Antwort ebensowenig wie ich seine Frage.

Seit drei Wochen unterrichte ich ‚meine‘ Flüchtlinge jetzt. Und komme mir vor wie der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein. Zwei Stunden die Woche sind nichts, selbst wenn man in der Zeit nur zwei bis fünf Kinder unterrichtet.

Gestern ging ich einigermaßen schlecht gelaunt in den Unterricht. Mein lange und sehnlich erwartetes Spielewochenende mit Freunden ist darmgrippemittelohrentzündungerkältungsbedingt ins Wasser gefallen, meine Arbeit stresst mich zur Zeit mehr als üblich, und irgendwie habe ich das Gefühl, dass mein Beitrag zur Unterstützung der Flüchtlinge … nicht dramatisch genug ist. Wenn ich Berichte lese und Bilder sehe, wie schrecklich die Situation für die Menschen auf der Flucht ist, was sie mitmachen und entbehren und riskieren, dann möchte ich ins Auto steigen und die gesamte Balkanroute abfahren, um Essen und Kleidung zu verteilen, ich möchte auf einem Schiff übers Mittelmeer fahren und sie aus ihren seeuntauglichen Nussschalen fischen, ich will nicht ein Kind, sondern eine ganze Horde Kinder adoptieren … einfach weil ich es nicht aushalte, wie schlecht es den Leuten geht. Natürlich ist das unmöglich und überzogen. Oder? Kann man überhaupt überzogen empathisch sein? Das Gegenteil scheint ja für viele Leute auch gut zu funktionieren …

Stattdessen sitze ich hier und übe mit zwei Kindern das R, das T und das N. Das Lesen ist für meine Kandidaten anstrengend bis qualvoll. Die Wörter werden in der falschen Richtung geschrieben, und wenn sich die Buchstaben zu Silben zusammenfügen sollen, sind immer die dummen Buchstabier-Vokale (Be, Ce, De …) im Weg. Irgendwann – meist frustrierend schnell – versagt die Konzentration und alles verschwimmt zu einem unleserlichen Brei.

Beim letzten Mal hatte ich als Ergänzung zu den grau bedruckten Arbeitsblättern, auf denen man einzelne Buchstaben ordentlich in Zeilen schreiben lernt, ein paar bunt bebilderte Buchstaben mitgebracht. (Ein Igel war nicht dabei, das I war mit einem Indianer illustriert – für deutsche Kinder sicherlich naheliegend, aber liest man in Syrien oder Afghanistan Indianergeschichten?) Der Lehrerin schien das nicht so recht zu sein, die Kinder würden ja die Vokabeln nicht kennen, also würden die Bilder auch nichts nützen. Ich hatte eher das Gefühl, die Schüler stürzen sich begierig auf alles Konkrete, Praktische, was sie kriegen können, und versuchen auf einmal auch die Wörter zu lesen, zu denen sie noch nicht alle Buchstaben kennen. Trotzdem habe ich heute einen anderen Ansatz versucht. Nicht zuletzt ermutigt durch Gespräche mit einer Bekannten, die als Sozialpädagogin in der Bayernkaserne arbeitet, habe ich meinen Kindern ein Buchstabendomino aus dem Spielzeugschrank geklaut und zur Auflockerung zwischendrin mit den Flüchtlingen gespielt. Und da war es zum ersten Mal: das Gefühl, das etwas zu ihnen durchdringt, dass sie Interesse haben, etwas dankbar aufnehmen. Hinterher hat das Lesen auch besser geklappt, und die Motivation war definitiv größer.

Und ich sehe Fortschritte. Minikleine. Mein Afghane schreibt zwar in etwa auf dem Niveau meiner vierjährigen Tochter (ja, sie ist früh dran). Aber er kriegt immerhin schon einzelne Silben zusammen gelesen. Und der Gesichtsausdruck, als er heute zum ersten Mal seinen Namen entziffert hat, war unbezahlbar. „Name? My name??“

Der Weg, der noch vor meinen Schülern liegt, bis überhaupt irgendeine Verständigung möglich ist, scheint mir fast so lang und mühsam wie die Reise, die sie hinter sich haben. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil sie sich nach all den Strapazen immer noch so anstrengen müssen, um endlich wirklich hier anzukommen. Aber was bleibt ihnen sonst übrig?

Ich trage meine Dominokarten und mein schlechtes Gewissen nach Hause. Doch irgendwie ist die miese Laune weg. Einen ganz kleinen Schritt sind meine Schüler heute weitergekommen. Während ich mir einen Belohnungskaffee mache, räume ich die Spülmaschine ein.


* Der Film, aus dem dieses Zitat stammt, ist übrigens sehr empfehlenswert. Er stammt aus den frühen 90ern und nimmt praktisch alles vorweg, was gerade passiert. Werde ihn hier sicherlich noch des Öfteren zitieren.

4 Kommentare:

Leo und Tanja hat gesagt…

Oh weh, das kommt davon, wenn man übermüdet Blogeinträge schreibt. Ich wollte natürlich nicht sagen, dass die Arbeit all der Helfer, die tatsächlich alles stehen und liegen lassen, um auf der Balkanroute Lebensmittel zu verteilen oder auf Seerettungsmissionen gehen, überzogen ist. Ganz im Gegenteil. Ich bewundere jeden, der das macht, ohne Ende. Wollte nur ausdrücken, dass mir so etwas in meinen momentanen Lebensumständen nicht möglich ist, und es deswegen überzogen wäre, das von mir selbst zu verlangen. :)

naiko hat gesagt…

ich hatte das nicht so verstanden. ich hatte deine emotionale reaktion als von dir als überzogen in frage gestellt interpretiert. ich weiß nicht, ob das so ist... ich weiß aber, dass ich selbst mich dem thema sehr entziehe, weil ich es nicht aushalten, WEIL meine emotionale reaktion die wäre, die du beschreibst. ich bewundere deine kraft und deinen mut, dich dem thema auszusetzen und dann sogar noch einer der vielen tropfen zu sein, die nur scheinbar auf dem heißen stein der notlage verzischen, denn immerhin - wie heißt es so dramatisch treffend - besteht jeder ozean aus einzelnen wassertropfen.

Anke hat gesagt…

Ich glaube, Spiele sind eine gute Methode.
Ich habe mal (ohne spezifische Vorbildung wie DAF) "Deutsch und Integration"(das war dann hauptsächlich Schreiben) für Frauen an der VHS unterrichtet. Und Englisch (nur Sprache) für kleine Nepalesen in Nepal, die erstaunlich wenig Vorkenntnisse hatten. In beiden Fällen bin ich auch bald auf Sprach-/Schreibspiele umgestiegen, dann hatten alle mehr Spass und haben sicher auch mehr gelernt als wenn man nur Buchstaben oder Wörter unterrichtet.
Solche Spiele gibt es ja genügend.

Und ich stimme Ninas letztem Eintrag zu: gerade die Kinder in Nepal waren sehr an meinem Leben interessiert. Leider konnte ich ihnen aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse auf beiden Seiten nur sehr grob erzählen.
Da hilft nun sicher Internet+iPad, mit dem gut Fotos herzeigen kann.
Oder auf dem die Schüler als Belohnung vielleicht auch mal ein Spiel spielen dürfen?

Haben die vielleicht sogar smartphones? Dann gibt es doch bestimmt Spiele, mit denen sie Schreiben & Rechnen lernen können. Sprachen sowieso. Auch ohne Handyvertrag - brauchen je nach Spiel nur 1x WLAN um sich das Spiel herunter zu laden.

Leo und Tanja hat gesagt…

Über Smartphone-Spiele denke ich auch schon länger nach. Es gibt auch einige kostenlose Apps zum Deutsch lernen für Flüchtlinge, aber die, die ich bis jetzt gefunden habe, sind eher für Leute, die schon lesen können. Meine Kinder haben ein, zwei sehr gute zum Schreiben lernen. Die kosten aber alle was. Ich würd sie 'meinen' gern schenken, aber wenn das die anderen Kinder in der Klasse mitkriegen, gibt's bestimmt Neid + Ärger. Muss noch ein bisschen überlegen, wie ich das hinkriege.
Dummerweise haben wir in den 2h Unterricht auch ein sehr straffes Programm, so dass kaum Zeit zum spielen bleibt. Muss mich mal mit der Lehrerin etwas ausführlicher besprechen, ob ich da nicht ein bisschen mehr Gestaltungsspielraum kriege...