16 Februar 2017

Abenteuer Demokratie

Wie auf diesem (schon wieder viel zu lange brachliegenden) Blog schon öfters beschrieben, leben wir hier in unserem Stadt-Dorf in einer kleinen Oase der Glückseligkeit in Sachen Offenheit und Willkommenskultur. Das ist auch nach wie vor der Fall. Aber natürlich gibt es auch hier verschiedene Meinungen, und eben auch Leute, die die Sache mit den Flüchtlingen ... kritisch sehen. Einer dieser Leute ist offenbar aktiv geworden und möchte hier nun eine Ortsgruppe einer viel zu bekannten blaubraunen Partei gründen. Also organisierte er einen Saal und ein Parteimitglied mit osteuropäisch klingendem Namen, das einen Vortrag über die Gefahren des Islam für unsere freie Gesellschaft halten sollte. So weit, so demokratisch. Ebenso demokratisch wollten aber viele Bürger auch zeigen, dass das nicht die vorherrschende Meinung in unserer Stadt ist, und haben innerhalb weniger Tage eine Gegenveranstaltung auf die Beine gestellt. Leider ohne Plakate, so dass man nur durch Mundpropaganda davon erfuhr.

Obwohl ich ja sonst nicht wirklich politisch aktiv bin, fand ich diese Aktion unterstützenswert genug, um meinen kranken Mann samt Kindern allein daheim zu lassen und hinzugehen. Es folgt ein kleiner Erlebnisbericht.

Kurz vor 18 Uhr, etwa eine Stunde nach Veranstaltungsbeginn. Als ich ankomme, schallt mir als Erstes ein beherzt-betrunkenes „Nazis raus“ aus dem Inneren eines Polizeiwagens entgegen. Hier geht’s ja zu wie im Hamburger Schanzenviertel oder ähnlich wild-aufsässigen Zentren des revolutionären Aktivismus. Ok, nicht ganz. Der Rest der Veranstaltung wirkt eher harmlos. Ein aus dem benachbarten Jugendzentrum entliehener Lautsprecher spielt dezent-moderne Musik, ein paar Tische mit Broschüren und Postkarten stehen im Kreis, Kinder wuseln über den Platz und an einer Stellwand kann man auf einer Weltkarte markieren, wo man herkommt. Ein Mann hat sich eine Europafahne umgehängt, ein anderer eines der kostenlos verteilten Schildern mit „Garching ist bunt“-Aufdruck auf einen Stock gesteckt, den er über den Kopf hält. Mehr Demo geht quasi gar nicht.

Ich bin erstaunt, dass trotz minimaler Werbung doch so viele Leute – schätzungsweise 80 oder 100? –gekommen sind, bis mir erzählt wird, dass zu Anfang der Veranstaltung die fünffache Anzahl an Teilnehmern da waren. Das kann ich nun wieder nicht so recht glauben, aber vielleicht habe ich mich auch verschätzt, Leute zählen ist ja nicht so leicht.

Immerhin zwei bekannte Gesichter sehe ich, eine befreundete Mutter und mein ebenfalls (viel mehr als ich) in der Flüchtlingshilfe aktiver Vater, mit dem ich eine Weile über Politik und Fahrräder fachsimple, bis er zu einem anderen Termin muss. Mieser Netzwerker, der ich bin, stelle ich mich doch zu dem einen oder anderen Grüppchen dazu und lerne ein paar Lokalpolitiker, Flüchtlingshelfer aus anderen Bereichen und einfach-nur-so-Engagierte kennen. Der Bürgermeister drückt mir zum Abschied die Hand, aus keinem besonderen Grund. Wahrscheinlich nur, weil ich gerade neben einer der Veranstalterinnen stehe, als er geht.

Aus irgendeinem Grund habe ich mich nie besonders mit dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin, identifiziert. War wahrscheinlich so ein Teenager-Ding: Es gab zwei altbacken-langweilige Säuferkneipen, kein Café, keinerlei Einkaufsmöglichkeiten, die über Supermarkt und Schreibwarenladen hinausgingen, kein Kino und außerhalb der Stoßzeiten nur alle 40 Minuten einen Bus in die Stadt.

Aber in letzter Zeit macht mich meine Kleinstadt unerwartet stolz. Scheiß auf das fehlende Einkaufszentrum, wenn ich in einem Ort leben kann, in dem die Stimme der Vernunft und Menschlichkeit noch etwas zu sagen zu haben scheint. Vielleicht sehe ich das aber auch zu romantisch. Eine Teilnehmerin der Veranstaltung erzählt mir, dass sie den Islam ja schon irgendwie gefährlich findet, und ihr nicht so ganz klar sei, ob der Titel des Vortrags nicht eigentlich doch seine Berechtigung hätte. Gemeinsam mit dem Europaflaggen-Mann kommen wir zu dem Schluss, dass nicht der Islam oder irgendeine Religion, sondern der Fundamentalismus das Problem sei und fühlen uns nun doch wieder im Recht.

Aber was ist denn jetzt eigentlich mit dem Vortrag, dem Anlass der ganzen Gegenveranstaltung? Bis jetzt gab es keinerlei Berührungspunkte. Aber müsste man nicht hingehen und sich das mal ansehen? Nur um informiert zu sein? Und sich vielleicht ein paar Gesichter zu merken, von Leuten, bei denen man in Zukunft nicht mehr zwingend einkaufen will? Die Frau mit der Weltkarte informiert mich, dass einige Gegendemo-Teilnehmer schon rüber ins Wirtshaus gegangen sind und genau das tun. Ob ich sollte...?

Klar sollte ich. Ich kann ja schlecht gegen etwas demonstrieren, das ich mir nicht wenigstens teilweise angesehen habe, und hier habe ich die Gelegenheiten, an Informationen aus erster Hand zu kommen.

Ich fühle mich sehr mutig, wie ich mit meinem „Garching ist bunt“-Schild zum Wirtshaus rübermarschiere. Auch hier stehen zwei Polizisten, allerdings haben sie keine Betrunkenen im Wagen. Letzter wären auch blöd, ihren Platz im Warmen jetzt schon zu verlassen. Ich mustere die Raucher vor der Türe und versuche sie in normale Gäste und Vortragsbesucher einzuteilen. Nicht leicht bis unmöglich, denke ich, bis ich durch die Glastür einen Blick in den Saal werfen kann. Alte weiße Männer. (Ernsthaft? Wovor glaubt ihr denn, Angst haben zu müssen?) Und gar nicht wenige, der Raum ist mehr als voll besetzt. Schätzungsweise ebenfalls 80 bis 100 Personen, aber auch hier bin ich mir keineswegs sicher. Mal sehen, was morgen in der Zeitung steht. Allerdings kann ich den Saal tatsächlich nicht betreten. Jetzt, wo der Vortrag läuft, ist die äußere Türe versperrt und vor der inneren stehen so viele Leute, dass ich nicht durchkomme. Mich mit meinem Schild durch eine dichtgedrängte Gruppe von Fans zu quetschen, ist mir dann doch irgendwie zu gruselig. Immerhin wirkt die Atmosphäre den Gesichtern der Zuhörer nach zu urteilen ähnlich harmlos wie die der Gegenveranstaltung. Und schöne bunte Schilder und Flaggen hat hier keiner. Alles wirkt alt und grau und unbegeisternd. Irgendwie nicht so, als hätte das Ganze hier am Ort viel Zukunft. Naja, wir werden sehen.

Ich klemme mir mein Schild auf den Gepäckträger und radle nach Hause. Auch wenn’s hier nach wie vor nur eine altbacken-spießige Kneipe und nur eine einzige (allerdings sehr) akzeptable Frühstücks-Location gibt – irgendwie will ich aus meinem Kaff nicht mehr weg.

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