09 Juni 2016

Amatus sum. Amatus es. Amatus est.

Irgendwie sind meine Überschriften in letzter Zeit häufig fremdsprachig. Aber keine Angst, ich fange jetzt nicht an, auf Latein zu schreiben. Ich zitiere nur einen Film, der mir in der letzten Unterrichtsstunde in den Sinn kam, als wir Übungen zum Futur I machten.

Eigentlich war ich überzeugt, im Film wäre das Verb auch im Futur – I und II – konjugiert worden, so dass die Bedeutung „Ich liebe, ich werde lieben, ich werde geliebt haben“ dabei rauskommt (und letzteres traurigerweise impliziert, dass die Liebe irgendwann endet). Aber diese falsche Erinnerung ist leicht zu entschuldigen, denn der Film, Das Reich der Sonne, ist so alt, das der Hauptdarsteller Christian Bale damals 13 Jahre alt war. Ja, ich hab den im Kino gesehen. 1987. Themawechsel!

In Wirklichkeit sagt Jim, der in einem japanischen Kriegsgefangenenlager internierte Junge, im Film also „Ich werde geliebt, du wirst geliebt, er wird geliebt.“ Sein britischer Mentor im Lager bringt ihm ausgerechnet Latein bei. Ganz sicher das Wichtigste, was ein Kind in so einer Situation lernen kann.

Genauso komme ich mir auch oft vor, wenn ich mit meinen Schülern, die z.T. gerade mal drei, vier Monate hier sind, scheinbar sinnlose Vokabeln übe oder mich mit ihnen an grammatikalischen Details festbeiße, für die jeder vernünftige Mensch die deutsche Sprache zum Teufel wünschen muss, und die zur Verständigung keineswegs unabdingbar sind.

Aber genau wie der Unterricht im Film ist der reale Unterricht etwas, auf das die Schüler sich konzentrieren und woran sie sich festhalten können. Wenn die aus meiner subjektiven Sicht völlig regelfreie Partizipbildung im Deutschen nervig genug ist, um kurzzeitig von Einsamkeit, Heimweh und Traumata abzulenken, dann ist sie vielleicht gar nicht mal so verfluchenswert.

Also nehmen wir zehn Beispielsätze und setzen das Verb ins Futur. „Ich werde Gitarre spielen lernen.“ „Ich werde auf den Berg steigen.“ „Ich werde bei Freunden übernachten.“ Dann sollen die Schüler beschreiben, was sie in den Sommerferien machen werden, und was in fünf Jahren. Viele sind ob der Langfristigkeit der Frage ratlos. (War ich in Bewerbungsgesprächen auch immer.) Manche schreiben Berufswünsche auf, andere Reiseziele. Einer aber schreibt über seine Sommerferienpläne: „Ich werde weinen. Ich werde traurig.“ Und in fünf Jahren: „Ich werde einen guten Freund haben.“

Er ist ein lieber, sanftmütiger Junge, der gern lacht und an alle Kekse verteilt, und sich leicht von den typischen Teenager-Hänseleien der anderen kränken lässt. Ein Junge, wie es ihn wahrscheinlich in jeder Klasse jeder Schule überall gibt, mit ganz normalen Sorgen und Problemen.

Aber zu wem kann er damit gehen? Seine Eltern sind, wie die der meisten Schüler, „nicht da“, mein Lieblingseuphemismus. Können ein Heimbetreuer, ein Lehrer, ein Haufen aus aller Herren Länder zusammengewürfelter Klassenkameraden und Mitbewohner auch nur annähernd genug Stabilität bieten, damit man die Pubertät übersteht, geschweige denn mit dem fertig wird, was man während und vor der Flucht durchmachen musste?

Oder, in (hoffentlich korrektem) Latein gefragt: Amati sunt? Wer liebt diese Kinder eigentlich?

2 Kommentare:

naiko hat gesagt…

ich bin mir sicher, dass diese kinder geliebt werden (präs.passiv.3.pers.pl). von abwesenden familien. und dass sie geliebt worden sind (perf.passiv, 3.pers.pl). von nicht-(mehr)-da-familien und freuden. und ich bin überzeugt,dass das sehr entscheidend ist.
ich möchte die schicksale dieser kinder auf gar keinen fall bagatellisieren oder herunterspielen, aber ich glaube, menschen sind sehr viel stärker als gemeinhin angenommen wird. es gibt kaum eine kultur, in der die erfahrung von flucht, verlust, angst und neuanfang keine rolle spielt. und es gibt so viele menschen,die es geschafft haben. sicher unter schmerz und unter aufwendung aller kraft. aber viele schaffen es! und das stimmt mich angesichts dieser vielen unfassbaren schicksale zuversichtlich.
es macht mich auch glauben,dass JEDE struktur (auch schulalltag und deutsche gramamtik), JEDES gute wort, JEDES fünkchen zuneigung, das diese kinder erfahren und erleben, ihnen hilft. in kleinen schritten. für und in ein leben, das sich zusammensetzt aus momenten.
einer dieser momente bist jede woche DU!

Birgit hat gesagt…

Ja, genau: Sie haben DICH!

Ich habe in meiner Klasse auch ein Flüchtlingskind. Der Junge hat allerdings auch noch andere Päckchen zu tragen. Seine Mutter ist mit den 5 Kindern völlig überfordert, selber krank und spricht (auch nach nunmehr 4 Jahren in Deutschland) kaum bis kein Deutsch. Er selber sollte altersmäßig in der 4. Klasse sein, sitzt aber bei mir in der 2 und ist fachlich völlig überfordert. Er hat eher das Gemüt eines 4jährigen. Und er hat schlimme Dinge erlebt (auch wenn seine Mutter sagt, es war völlig friedlich in Syrien (ja, genau, deshalb seid ihr ja geflohen!!). Und der Verdacht der häuslichen Gewalt steht im Raum. Der Vater? Ja, den soll es angeblich irgendwo geben. Sogar ganz in der Nähe. Aber der Junge sagt vehement, er habe keinen Vater. Hatte ich schon sein Stottern erwähnt?
Ja, das Stottern ist sein kleinstes Problem. Daran ziehen sich aber viele hoch, dass er da Hilfe benötigt.
Nein, der Junge braucht eine Psychotherapie und zwar am besten vor 4 Jahren. Aber die bekommt er nicht, weil laut schulpsychologischem Dienst, die Kinder die Sprache perfekt beherrschen müssen, um therapiert zu werden.
Ja, und dann haben wir einen Integrationshelfer beantragt, der in der Schule immer an seiner Seite ist. Dieser wurde aber nun abgelehnt. Und warum? Ha! Das ist der gespielte Witz: Weil das Gesundheitsamt sagt, er müsse erst einmal eine Therapie machen.

Dieser Junge hat nicht das Glück, dass er jemanden wie dich hat. Jemanden, der nur eine kleine Gruppe vor sich hat und nicht über 20 Kindern gerecht werden muss.

Mach weiter so und die Kinder/Jugendlichen, die du betreust, werden es dir einst zutiefst danken, einfach weil du für sie da warst, als für sie alles so neu war.