25 April 2016

Starved for Stories


Am Wochenende war Tag des Buches. (Für mich persönlich war eher Tag der Schwerkraft mit unliebsamen Folgen, aber wenigstens sind keine Bücher runtergefallen, und alle Familienmitglieder haben sich mittlerweile halbwegs von diversen Stürzen erholt.) Jedenfalls hat unsere örtliche Buchhandlung das zum Anlass genommen, die Kinder der Ü-Klasse einzuladen und ihnen ein Buch zu schenken. Netterweise am Montag, wo ich sowieso immer in die Schule komme, drum durfte ich mit.

Wenn man sich jetzt einen Haufen 16- bis 18jähriger Hauptschüler (nichts anderes sind Schüler der Mittelschule ja) in einer kleinen Buchhandlung vorstellt, erwartet man ein bisschen sowas wie eine Gruppe Grillfans im Veganerladen. Milde Langeweile bis aktives Desinteresse, noch verstärkt durch die Tatsache, dass alle Bücher in einer den Schülern fremden Sprache, also noch weniger zugänglich sind. So das Vorurteil. Doch weit gefehlt. Die Kids fielen geradezu über die Bücher her. Alles von Kochbüchern über Sportbücher bis zu Liebesromanen schien sie zu interessieren. Sogar diverse Kinderbücher wurden aufmerksamst studiert, während die Buchhändlerin erklärte, wo die kleinen Bücher eigentlich herkommen. „Zuerst denkt ein Mensch“, beschrieb einer der Jungs auf ihre Frage hin den Ursprung eines Buches. Zwar gibt es genug Werke, die beweisen, dass man sich das mit dem Denken auch sparen kann, aber prinzipiell finde ich es toll, dass er zuerst an den Autoren gedacht hat, und nicht (wie ich Banausin) an Papierherstellung oder Buchbinderei.

Zum Schluss gab’s ein Geschenk für alle. Einige wirkten fast enttäuscht, dass sie sich nicht selbst eines aussuchen durften. Und tatsächlich wirkte die Geschichte des 11jährigen deutschen Beinahe-Teenies, dessen größtes Problem es war, dass er den ganzen Sommerurlaub mit seinen Eltern in Amerika verbringen musste, und das auch noch an einem Ort ohne Internet, auf mich nicht gerade wie Stoff, mit dem sich meine Flüchtlingskinder identifizieren können würden.

Aber schon wieder lag ich falsch. In der anschließenden Stunde begannen wir das Buch gemeinsam zu lesen. Und Mann, haben die sich da reingestürzt. Selbst die, die noch wirklich wenig Deutsch können, kämpften sich tapfer Absatz für Absatz weiter. Wenn derjenige, der mit Vorlesen dran war, ins Stocken geriet, halfen drei oder vier andere aus. Bei manchen konnte man sehen, wie sie selbständig weiterlasen, obwohl wir noch nicht so weit waren. Nachdem ich die Stunde bereits um 10 Minuten überzogen hatte, konnte ich eins der Mädchen nur dazu bewegen, zurück ins Klassenzimmer zu gehen, indem ich noch schnell einen weiteren Absatz mit ihr las.

Und ist am Anfang des Buches nicht mal irgendwas Spannendes passiert. Was zweierlei beweist. Erstens: Selbst nach einem halben Jahr mit meinen Flüchtlingen stecke ich voller Vorurteile. Die ich wohl besser immer wieder bewusst überprüfen sollte. Und zweitens: Der Mensch braucht Geschichten. Vielleicht nicht so dringend wie Nahrung oder Luft zum Atmen oder Sicherheit. Aber fast.

Und ich freu mich tierisch aufs Weiterlesen mit den Kids.